Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1971


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 24. - 29. Mai 1971

Nächstenliebe nach Freud
Verstehen und Verzeihen
Wie die Kinder
Weltwunder gestern, heute, morgen
Heidnische Christen
Hundert Schwestern und Brüder

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Nächstenliebe nach Freud

Kein Geringerer als Freud stellt das Gebot der Nächstenliebe in Frage. Dabei ist er sich wohl bewußt, von welch zentraler Bedeutung dieses Gebot für den christlichen Glauben ist. Nur gibt es diese Idealforderung schon länger als das Christentum. Andererseits ist sie aber auch nicht so alt, als daß sie schon immer unter den Menschen erhoben worden wäre. "Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen", schreibt Freud, "als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremdung nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande?" Für Freud kann es Nächstenliebe nur geben, wo ein anderer mir in wichtigen Stücken ähnlich ist. Dann vermag ich im andern mich selbst zu lieben. Oder aber er verdient meine Liebe, weil er vollkommener ist als ich. Ich liebe dann weniger mich selbst als mein Idealbild.

Weiterhin kann ich den Nächsten lieben, weil er der Sohn meines Freundes ist. Schließlich muß ich doch bereit sein, den Schmerz meines Freundes zu teilen, wenn dessen Sohn etwas zustößt.  Einem Fremden gegenüber, der für mich keinen Wert darstellt, wird Liebe allerdings ausgesprochen schwierig. Freud betrachtet es sogar als ein Unrecht, wenn ich einen Fremden meinen Angehörigen gleichstelle. Er fragt: Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann? Überdies gibt es bei näherem Zusehen eher Gründe einen Fremden zu hassen als zu lieben.

Freud will das Liebesgebot nur gelten lassen, wenn es anders formuliert wird. Statt zu sagen "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", müßte es heißen "Liebe deinen Nächsten wie dein Nächster dich liebt". Damit ist auch die Feindesliebe ausgeschlossen. Sie ist nach dieser Auffassung geradezu unfaßbar.

Warum gibt es aber überhaupt das Gebot der Nächstenliebe? Freud erklärt es mit dem Bestreben der Kultur den Aggressionstrieb des Menschen zu bändigen. Mit diesem Gebot sollen dem Menschen Schranken gesetzt werden, daß er nicht über den anderen herfällt. Nur habe dieses Bemühen der Kultur bislang keinen sonderlichen Erfolg gehabt.

Wenn wir den berühmten Wissenschaftler mit seinen Einwänden ernst nehmen, steht es schlecht um die biblische Forderung nach der allgemeinen Nächstenliebe, Wir können ihm  nicht einfach entgegenhalten, diese Forderung stehe doch in der Bibel. Er wertet sie sicher nicht als Wort Gottes, In diesem Falle sind Argumente, die vielleicht von psychologischer Seite vorgebracht werden, wirksamer.

In seinem Buch "Die Kunst des Liebens" sagt der Psychoanalytiker Erich Fromm etwa: "Liebe ist die einzige vernünftige und befriedigende Antwort auf das Problem  der menschlichen Existenz". Dabei kommt auch er auf das Gebot der Nächstenliebe zu sprechen, Er räumt ein, daß es schwer zu erfüllen sei. Oft wird Nächstenliebe auch verwechselt mit dem Wunsch nach Abhängigkeit, dem Streben nach Macht oder der sexuellen Begehrlichkeit. Die Liebe und ihre Verzerrungen lassen sich nach Fromm am besten in der Sprechstunde des Analytikers studieren. Hier findet er die überzeugendsten Beweise dafür, daß die Forderung der Liebe zum Nächsten die wichtigste Lebensnorm ist. Hinter allen Klagen seelisch kranker Patienten entdeckt er die Unfähigkeit zu lieben.

Wir erinnern uns: Freud sagt: Das Liebesgebot ist unvernünftig und unerfüllbar. Dagegen behauptet Fromm: Die Liebe zum Nächsten ist die wichtigste Lebensnorm. Von der Wissenschaft her läßt sich der Gegensatz kaum überbrücken. In unserem praktischen Leben sieht es ähnlich aus. Einmal verzweifeln wir daran, daß es bei uns und den andern keine Nächstenliebe gibt; das nächste Mal spüren wir, daß wir ohne sie nicht auskommen. Die Wissenschaft mag sich damit beruhigen, daß es hier zwei verschiedene Theorien gibt. Wir aber stehen vor der schweren Aufgabe, trotz unserer schlechten Erfahrungen das Gebot der Nächstenliebe ernstzunehmen.


Verstehen und Verzeihen

Vielen Angeklagten werden für ihre Tat mildernde Umstände zuerkannt. Dementsprechend wird das Strafmaß herabgesetzt. Nicht selten wird eine Untat überhaupt nicht bestraft. Der Täter kann nach Ansicht des Gerichtes für sein Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Je besser unsere Kenntnisse von der Seele des Menschen werden, umso schwieriger wird es für den Richter zu verurteilen. Die Gutachten der Psychologen werden in der Rechtsprechung immer bedeutsamer. Es scheint sich das zu bewahrheiten, was im vergangenen Jahrhundert der Philosoph Nietzsche gesagt hat: „Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten mildernden Umstände, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern." Soweit die Worte Nietzsches

Man kann seinen Gedenken auf die einfache Formel bringen: Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Hinter diesem aus Frankreich stammenden Wort liegt eine reiche menschliche Erfahrung und Weisheit. Unabhängig von der Psychologie setzt es die Bereitschaft zu verzeihen an die oberste Stelle. Diese Bereitschaft wächst in dem Maße, wie ich den andern verstehen lerne.

Wenn dem so ist, gerät denn nicht unsere ganze Gerichtsbarkeit ins Wanken? Luise Rinser stellt den Konflikt in ihrem Roman "Der Sündenbock" dar. Der Chef der Kriminalpolizei einer Stadt, ein berühmter Kommissar, ist mit einem mysteriösen Fall befasst. Eine reiche Dame stirbt auf seltsame Weise. Der kostbare Schmuck verschwindet. Die Erben verhalten sich ausgesprochen gleichgültig. Ein Antiquitätenhändler, der Stücke des Schmuckes besitzt, erhängt sich. Die Stadt ist voller Gerüchte. Zahlreiche Verdächtigungen werden flüsternd ausgesprochen. Es herrscht allgemeiner Unfriede. Man erwartet von dem Kommissar die baldige Entdeckung des Schuldigen. Dieser arbeitet sich immer tiefer in das Gewirr von Schuld und Verdächtigung hinein. .Es scheint d e r Fall für einen erfahrenen Kriminalisten zu sein. Auffällig ist, daß er immer zurückhaltender und betroffener wird. Schon wird man in der Stadt unruhig. Wird der Kommissar den Fall klären? Will er vielleicht die ganze Angelegenheit vertuschen?

In dieser Situation läßt Rinser bezeichnenderweise ein Gespräch zwischen dem Pfarrer und dem Kommissar stattfinden. In dessen Verlauf bittet der Geistliche den Kommissar sehr eindringlich: "Versuchen Sie es in diesem Falle nicht, die Schuldigen zu finden. Es sind unschuldig Schuldige. Mehr darf ich nicht sagen. Seine priesterliche Schweigepflicht verbietet ihm konkretere Aussagen. Allerdings spricht er nicht von gänzlich Unschuldigen. Er setzt als Theologe voraus, daß der Mensch schuldig werden kann. Dies geschieht in einer Verquickung von Unschuld und Schuld, "Das Gute, irregeleitet," sagt er, "und der Mensch ist sehr schwach". Dieses Urteil wird durch das Bekenntnis einer Frau, die alle Schuld auf sich nimmt, bestätigt. Sie sagt dem Kommissar: "Hab alles zum Guten richten wollen... Hab's nicht gekonnt." Der Roman schließt damit, dass der Kommissar nach diesem Gespräch um seine Entlassung einkommt.

Er vermochte nicht mehr zu verurteilen. Es war aber auch nicht seines Amtes zu verzeihen.

Damit will der Roman nicht einfach alle Schuld hinweggemildert haben. Er wirbt um Verständnis für den, der schuldig geworden ist. Dieses Verständnis führt nicht dazu, daß ich den andern völlig entschuldige, sondern daß ich ihm seine Schuld verzeihe.


Wie die Kinder

Es ist schon viel an den Worten herumgerätselt worden: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder". Darin liegt offensichtlich die Aufforderung sich an den Kindern zu orientieren. Das aber läuft unseren gewohnten Prinzipien zuwider. Immerhin liegt in dem Urteil "Die benehmen sich wie Kinder!" ein starker Vorwurf. Er kritisiert das Verhalten Erwachsener, die den gebotenen Ernst vermissen lassen. Wo kommen wir hin, wenn wir uns nach den Kindern ausrichten wollten: Würden nicht all unsere Ordnungen zusammenbrechen? Die lange Erfahrung der Menschheit spricht dafür, daß sich die Kinder an den Erwachsenen orientieren und nicht umgekehrt. In den frühen Kulturen sind es die Stammesältesten gewesen, die Brauch und Sitte, Religion und Moral bestimmten. Dies geschah dadurch, dass sie sich ihrerseits an den Traditionen ihrer Vorfahren maßen. Je älter ein Stammesmitglied war, umso beachteter war es, weil es den früheren Generationen an nächsten stand. Das Kind, das geboren wurde, hatte sich in die Vorstellungen der Erwachsenen einzufügen.

lm römischen Reich hieß der Staatsrat Senat. Vom Wort her war es ein Gremium der Alten, weil Erfahrenen. Die Priester sind vom Ursprung her die Ältesten einer Gemeinde. Ganz selbstverständlich geht auch unsere heutige Erziehungspraxis davon aus, daß die Kinder und Jugendlichen von den Erwachsenen zu lernen haben. auch ihr Verhalten sollen sie nach diesen ausrichten. Das klassische Wort für die Beziehung Kind-Erwachsener steht ebenfalls wie das vom Kindwerden in der Bibel (bei Paulus) und lautet: "Als ich ein Kind war, sprach ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Seit ich ein Mann bin, habe ich abgelegt, was dem Kinde entspricht."

Es ist also mehr als verständlich, wenn uns der Satz von den Kindern, die wir werden sollen, kaum eingeht. Wörtlich genommen, würde er erhebliche Konsequenzen für unser Leben mit sich bringen. Aus Gründen der Vernunft oder des gesunden Menschenverstandes konnten wir ihnen bisher recht gut ausweichen.

Es bannt sich aber eine Wende an. Die amerikanische Völkerkundlerin Margaret Mead sieht sogar ein neues Zeitalter heraufkommen. In diesem werden sich die Kinder nicht mehr nach den Eitern richten, sondern die Eltern nach den Kindern. Wir alle können ja bereits jetzt feststellen, daß die Erwachsenen Kinder und Jugendliche viel ernster nehmen, als wir es von früher her kennen. Das kann natürlich aus Schwäche geschehen. Mead erwartet aber, daß es künftig aus Einsicht in die verwandelte Situation geschieht. Da sich die Zeiten so schnell verändern, sind es die Kinder, die diese Veränderungen eher verstehen als die Erwachsenen. Wer vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, ist "unter einem Himmel aufgewachsen, über den noch nie ein Satellit gerast war" (Mead). Die junge Generation findet das bereits selbstverständlich. Andererseits haben sie nie eine Zeit erlebt, in der die Menschheit nicht durch eine totale Vernichtung bedroht war. Aus diesen und vielen anderen Gründen empfinden sie ganz anders als die Erwachsenen. Von dem, was ihnen von früher erzählt wird, verstehen sie nur die Hälfte. Dafür leben sie mit einem Zeitgefühl, welches die Älteren kaum nachvollziehen können. Mead, die viele Völker und Kulturen studiert hat, sagt: "Heute gibt es auf der ganzen Welt keine Alten, die wissen, was die Kinder wissen". Es ist demnach eine Überlebensfrage, dass sich die Erwachsenen nach den Kindern richten.

Diese Umstellung ist auch nach Christus eine Überlebensfrage- Er sagt den Erwachsenen, sie müßten wie die Kinder werden, um in das Reich zu kommen. Wenn es ihnen nicht gelingt, bleiben sie vom Heil ausgeschlossen. Auch hier wissen die Kinder, was die Alten nicht wissen. Sie wissen, daß die Traurigen lachen werden, daß die Sperlinge keine Sorgen haben, daß die Reichen arm dran sind, daß Gott große Überraschungen bereithält, daß nur Liebe zählt.


Weltwunder gestern, heute, morgen

Seit dem Altertum kennen wir die Aufzählung der sieben Weltwunder. Es handelt sich dabei um Bauwerke, die wegen ihrer einmaligen Größe und Schönheit Staunen erregten. Zu den grandiosen Werken aus Menschenhand zählten die Pyramiden, die hängenden Gärten der Semiramis von Babylon, der Tempel der Göttin Artemis von Ephesus und der Koloss von Rhodos; eine riesige Götterstatue, die breitbeinig über der Hafeneinfahrt stand. Nehmen wir noch das Mausoleum in Halikarnassos und die Figur des Göttervaters Zeus von Olympia hinzu, so erkennen wir folgendes: Der Mensch setzt sich und seinen Göttern ein Denkmal. Hier erreicht er seine größten Leistungen.

Als diese Bauwerke in Schutt und Asche fielen, wurden neue Bauten in die Liste der Weltwunder aufgenommen. Noch mehr änderte sich die Aufzählung und Rangfolge in dem Augenblick, wo Eroberer und Weltreisende den Gesichtskreis Europas erweiterten.

Auch beute werden immer wieder Versuche unternommen, die menschlichen Höchstleistungen unserer Zeit aufzuführen hat ein Unternehmen kürzlich einen diesbezüglichen Wettbewerb unter Journalisten ausgeschrieben. Ihrem Gespür für das Besondere traut man es zu, unsere sieben Weltwunder zu benennen. Die Entscheidung der Journalisten fällt auf den Computer, das Delta-Eindeichungsprojekt von Holland, die Atomspaltung, den künstlichen Träger von Erbanlagen, die Organverpflanzung wie etwa die Herztransplantation, die Pille und nicht zuletzt die Raumfahrt.

Die früheren Aufzählungen der Weltwunder unterscheiden sich sehr deutlich von der gerade vorgetragenen. Bislang wurden Bauwerke bewundert. Neben ihren Ausmaßen spielte dabei die künstlerische Form eine maßgebliche Rolle. heute zählen die Wunderwerke der Technik und Wissenschaft. Bedeutsamer erscheint noch ein anderer Unterschied. Wohl waren die Weltwunder der Antike Menschenwerk. Sie zeigten, zu welch einmaliger Leistung menschliche Schöpferkraft fähig ist. Diese stand aber vornehmlich im Dienste der Götter. Tempel, Statuen und Grabmäler waren ein Ausdruck der Frömmigkeit. Sie waren eine Huldigung an die göttliche Welt, von der die eigentlichen Wunder erwartet wurden.

Der  ausdrückliche Bezug auf Gott fehlt bei den Weltwundern, die für unsere Tage charakteristisch sind. Eindeutig geht es um den Menschen und die Erweiterung seiner Fähigkeiten und seines Einflusses. Der Computer steigert seine Denkfähigkeit; das Eindeichungsprojekt erweitert seinen Lebensraum; die Atomspaltung verstärkt seine Energie; die Organverpflanzung verlängert sein Leben; die Raumfahrt schließlich verbindet ihn mit dem Universum. Es ist nicht abzusehen, welche Wunder der Mensch in Zukunft noch vollbringen wird.

Die Erwartungen sind hoch. Keines des bisherigen Wunder kann den Menschen völlig faszinieren. Überdies verlieren unsere technischen Leistungen sehr bald ihren besonderen Glanz. Sie werden überaus schnell alltäglich und selbstverständlich. Hinter allen bisherigen Wundern sucht der Mensch eine andere Kategorie von Wundern, die noch größer und überraschender sind, Es wären die Wunder, die die Welt des Menschen grundlegend veränderten.

Es wäre das Wunder, daß der Mensch seine bewundernswerten Leistungen einsetzte, um das Wunder einer menschlichen Welt zu schaffen. Wunder dieser Art könnten die Überwindung des Hungers und die Abschaffung des Krieges sein. Vielleicht dürfen wir mit solchen Weitwundern aber nur rechnen, wenn es zu einer neuen Frömmigkeit kommt. Sie schlösse den Glauben an wirkliche Wunder ein.


Heidnische Christen

Unzählige Menschen halten sich an astrologische Prophezeiungen. Mögen die Prognosen noch so vage sein, sie dürfen sich sogar widersprechen, dennoch wird daran geglaubt. Selbst Hinweise auf Scharlatane, die in den Redaktionsstuben der illustrierten Massenblätter sitzen, fruchten wenig. Hier wird erstaunlich fest geglaubt, während andererseits manche Wahrheiten des christlichen Glaubens bezweifelt werden. Nach zwei Jahrtausenden kirchlicher Predigt sieht es so aus, als gäbe es doch noch viele Heiden.

Der Psychologe C. G. Jung vertritt die Ansicht, das Christentum sei an der Oberfläche geblieben. Darunter regierten noch die heidnischen Götter. Die großen Ereignisse der heutigen Welt kämen nicht aus dem Geist des Christentums sondern eines ungeschminkten Heidentums. Es sei immer noch in den Tiefenschichten der Seele lebendig. Von diesen Schichten gingen die entscheidenden Antriebe für das Handeln aus. Das Christentum habe noch nicht so weit vordringen können. Seine Prägekraft habe sich bislang als zu schwach erwiesen. Wörtlich schreibt Jung: "Die christliche Kultur hat sich in erschreckendem Ausmaß als hohl erwiesen."

Das Urteil ist mehr als hart. Es klingt zu pauschal, wenn wir an so viele überzeugende Christen denken. Andererseits wollen wir uns nicht verhehlen, wie wenig das Christentum in der Welt ausrichtet. Obwohl Jung so kritisch Stellung bezieht, gehört er nicht zu denen, die das Christentum totgesagt haben. Er ist hingegen davon überzeugt, daß es dem Menschen viel zu bedeuten hätte. Aber es müßte mit seiner Erziehungsaufgabe neu ansetzen. Nur dann gibt er ihm die Chance, sich den Heiden, die Europa bevölkern und vom Christentum nichts vernommen haben, verständlich zu machen.

Was hat die Kirche nach Jung bisher falsch gemacht? Sie hat zwar viel gepredigt. Sie hat auch sehr viel Religionsunterricht erteilt. Es genügte ihr zu oft, daß die Wahrheiten des Glaubens auswendig gelernt wurden. Die Kinder mußten sie ohne Stocken und fehlerlos aufsagen können. Abfragbares Wissen wurde gespeichert. Ob es verstanden wurde, war eine andere Sache. Wichtig war weiterhin, daß der Gottesdienst möglichst regelmäßig besucht wurde. Es galt viele Formen und Bräuche einzuhalten. Großer Wert wurde auf das moralische Verhalten gelegt. Bei all dem hat die Kirche sehr viel von der Seele gesprochen. ihren Dienst hat sie sogar als Seelsorge umschrieben. Jung meint aber, die Kirche habe die Seele des Menschen nicht ernst genug genommen,

Nach der Theorie von Jung schlummern in der Seele Bilder. Sie bestimmen entscheidend, was der Mensch erlebt. Allerdings können sie auch verdeckt bleiben. Dann verkümmert der Mensch trotz großen Wissens. Bilder sprechen den Menschen nämlich tiefer an als Begriffe. Zu den wichtigsten Urbildern gehört die Vorstellung von Gott. Daher braucht Gott nicht von außen her bewiesen zu werden, er ist erfahrbar. Aufgabe der Kirche ist es, diese Erfahrung möglich zu machen.

Jungs Ansichten bewahrheiten sich heute auf überraschende Weise. Das Religiöse, von dem man geglaubt hatte, es habe sich überlebt, meldet sich unter der jungen Generation wieder. Kürzlich wurden zwei Mitglieder einer Kommune zu einer kirchlichen Tagung eingeladen, Sie erregten bei den Diskussionen besondere Beachtung; denn sie sprachen sehr schlicht und überzeugend von Gott und der Suche nach ihm. Dabei bedeutete ihnen die Kirche herzlich wenig. Über die Musik und die indische Philosophie waren sie zu ihrem Gottesglauben gekommen.


Hundert Schwestern und Brüder

Immer bohrender fragen junge Leute: Was hat mir der christliche Glaube zu bieten? Man kann diese Frage zurückweisen, wenn man dahinter ein verdächtiges Lohndenken wittert. Andererseits suchen jüngere Menschen mit Recht nach einem erfüllten Leben. Dieses möchten sie keinesfalls auf ein ewiges Leben nach dem Tode verlagert wissen. Das ist ihnen viel zu ungewiß. Hier und jetzt wollen sie sehen, was die christliche Weltanschauung für ihr Leben austrägt.

Mit ihrer Frage befinden sie sich überdies in bester Gesellschaft. Sie wurde bereits Jesus gestellt. Er hat sie nicht einfach als unstatthaft zurückgewiesen. Eines Tages wandte sich Petrus an Jesus, indem er fragte: Was wird uns dafür zuteil, daß wir dir gefolgt sind?" Die Antwort Jesu spricht von einer Fülle, die jedem zufalle, der sich ganz auf ihn einlasse; Ihr werdet auf hundertfache Weise Häuser. Brüder und Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker haben." Seine Freunde sollten also nichts von dem entbehren, was das Glück eines Menschen auszumachen pflegt. Im Gegenteil, es sollte ihnen in überreichem Maße zufallen.

Um dies besser zu verstehen, müssen wir nochmals auf die Frage von Petrus zurückkommen. Nachdem ein junger Mann traurig weggegangen war, weil Jesus von ihm verlangt hatte, seinen ganzen Besitz aufzugeben, sagte Petrus: "Schau, wir haben alles aufgegeben und sind dir nachgefolgt." Was sie aufgegeben haben, wird in der Antwort Jesu aufgeführt: "Jeder, der Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder und seinen Besitz um der Herrschaft Gottes willen verlassen hat, wird es wiedererhalten, aber hundertfach." Statt eines Bruders wird der Jünger hundert Brüder, statt einer Mutter hundert Mütter, statt eines Morgens Land hundert Morgen Land haben.

Das klingt wie eine schöne und märchenhafte Übertreibung. Jesus malt eine Utopie aus, so recht nach dem Geschmack leichtgläubiger Frommer, die sich auf eine jenseitige Welt freuen. Dort, hoffen sie, daß sich alles erfüllt.

Die Verheißung Christi bezieht sich aber in diesem Falle nicht auf ein Leben nach dem Tode, ausdrücklich vermerken zwei Bibelautoren an der fraglichen Stelle, daß die hundertfache Bereicherung bereits in diesem Leben eintritt. Die neue Zeit, in der Gottes Herrschaft verwirklicht wird, zeichnet sich also augenfällig ab. Sie ist nachprüfbar. Es muß demnach Menschen geben, Christen, die von sich sagen können, daß sie mehr wiederbekommen haben, als sie aufgaben. Sie sind in ein Leben eingetreten, daß ihnen einen neuen Reichtum und eine neue Gemeinschaft beschert.

Diese Auslegung der Bibelstelle wird selten vorgetragen. Vielleicht haben Sie noch nie davon gehört. Das ist nur allzu verständlich. Denn es kann von dieser Wirklichkeit nur die Rede sein, wenn sie irgendwo anzutreffen ist.

Hinter den Bibelworten, die Jahrzehnte nach dem Tode Jesu geschrieben wurden, steht die Erfahrung der ersten Christen. Sie hatten erlebt, was die Nachfolge Christi für eine Erfüllung und ein Glück mit sich brachte. Ihnen war eine Gemeinschaft geschenkt worden, in der alle einander Bruder, Schwester, Vater, Mutter und Kind waren. Die Grenzen des Eigentums hatten sich aufgelöst. Sie stellten den Anfang einer neuen Gesellschaft dar.

Die Jugend, die sich von Kommunen angezogen fühlt, ersehnt eine neue Gesellschaft. Viele von ihnen wären sicher glücklich, wenn sie diese unter Christen finden könnten.