Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1968


Zuspruch am Morgen
Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 7. - 12. Oktober 1968

Respekt vor dem Wort
Die Bibel als unwiederbringlicher Schatz
Höchstwert Arbeit?
Du sollst Dir kein Bildnis machen
Wohlstand für Alle?
Das Leben lieben

weitere:
1966 - 1967 I - 1967 II - 1968 I - 1968 II
1969 I - 1969 II - 1970 I - 1970 II - 1971

Respekt vor dem Wort

ber jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie Rechenschaft geben müssen am Tag des Gerichtes; denn nach deinen Worten wirst du gerechtfertigt, nach deinen Worten wirst du verurteilt" (Mt 12,36f). Dieses Schriftwort kann mir für den ganzen Tag die Lust nehmen, den Mund zum Reden zu öffnen; wie sonst will ich, wenn ich solche Worte ernst nehme, vor einem derartigen Gericht bestehen? Leider werden mich die Erfordernisse, die der Tag mit sich bringt, sehr bald wieder zum Sprechen bringen; sei es nur, weil ich mich bedanken muß, da mir jemand die Haustür freundlicherweise aufhält. Abgesehen davon spüre ich, daß absolutes Schweigen keine Lösung für das Problem der unnützen Worte ist. Wenn ich es aber nicht vermeiden kann zu reden, möchte ich mir heute einmal selbst zuhören. Vermutlich werde ich mich über das wundern, was ich so während eines lieben langen Tages von mir gebe.

In meinem Sprechen, in der oft gedankenlosen Wahl meiner Worte stecken nämlich Gefahren, Gefahren für mich persönlich, Gefahren auch für andere. Ich weiß sehr wohl um die Gefahren, die durch lieblose Worte heraufbeschworen werden; mir ist auch bekannt, was mit Lügen und Verleumdungen angerichtet werden kann; aber was weiß ich von den Folgen, die aus Worten entstehen, die keine Lügen sein wollen und trotzdem falsch gewählt sind, die eher etwas verschleiern, die nicht übereinstimmen mit dem, was ich im Grunde sagen will? Oft sind es Worte, deren wirklichen Gehalt wir gar nicht bedacht haben, sie sind abgenutzt oder unecht, vielleicht sind es Schlagworte oder Parolen. Wohin wir dabei geraten können, sagt uns der chinesische Weise Konfuzius: "Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kommen die guten Werke nicht zustande. Kommen indes die guten Werke nicht zustande, so gedeihen Kunst und Moral nicht, so versagt die Rechtsprechung; versagt die Rechtsprechung, so weiß ein Volk nicht, wohin es Hand und Fuß setzen soll". "Also dulde man",  so folgert Konfuzius, "keine Willkür in der Wahl der Worte. Das ist es, worauf alles ankommt."

Das anfangs zitierte Bibelwort erhält von dieser Mahnung her ein neues Gewicht. Aus der politischen Erfahrung wissen wir nur zu gut, wie die Wahl der Worte Wirklichkeit verändern kann. Dadurch, daß man sich dem hohlen Wortgeklingel überließ, konnte es nach Ansicht des Sprachkritikers Karl Kraus dazu kommen, daß aus dem "Volke  der Dichter und Denker" ein "Volk der Richter und Henker" wurde.

Wem es nichts ausmacht, leichtfertig mit dem Wort umzuspringen, Parolen und Phrasen zu gebrauchen, verliert den Kontakt zur Wahrheit. Er wirkt zerstörerisch bei sich und seiner Umgebung. Dabei wissen wir, daß es nicht nur die politischen oder geschäftlichen, sondern auch die religiösen Phrasen gibt, die frommen Flickwörter, die hohlen Trostworte oder die zur Unzeit aufgesagten Bibelsprüche. Sie sind für das Glaubensleben verhängnisvoll, verstellen sie doch den Zugang zum wahren Gehalt des Christuswortes. Welches Gericht wird gerade über solche unnützen Worte ergehen?


Die Bibel als unwiederbringlicher Schatz

In dem Film "Fahrenheit 451" wird gezeigt, wie in einem Staat der Besitz von Büchern strafbar geworden ist. Dort werden Bücher als überflüssig, ja als gefährlich angesehen, da sie die Ungleichheit unter den Menschen förderten. Bei denen, die nicht lesen, entstünden allzu leicht Minderwertigkeitsgefühle. Eine Beunruhigung durch eine kleine Minderheit, die noch liest, kann von der Mehrheit nicht geduldet werden; denn die Mehrheit hat keinerlei Interesse  an Büchern. So werden Feuerwehrtrupps ausgerüstet, die den Büchern nachspüren und sie mit Kerosin verbrennen.

Wie sieht es bei uns aus? Das Bücherlesen soll ja hierzulande nicht zu den bevorzugten Hobbys zählen. Das dürfte auch das Lesen in der Bibel betreffen, obwohl diese mittlerweile spottbillig zu haben ist. Meiner Kenntnis nach wird herzlich wenig in der Schrift gelesen und noch weniger von ihr verstanden. Dabei ist einzuräumen, daß es vielleicht nie schwieriger war als heute, die Bibel zu verstehen. Ganz deutlich wurde mir dies bei einer Frau, der ich aus besonderem Anlaß ein Neues Testament geschenkt hatte. Nach Wochen begegnete ich ihr. Sie bedankte sich für das Buch, hatte auch darin gelesen, gestand aber, kaum etwas vom Sinn verstanden zu haben.

Das mag ein besonders krasser Fall sein. Er läßt sicher noch keinen Schluß zu, wie verbreitet die mangelnde Fähigkeit ist, sinnvoll in der Bibel zu lesen. Diese Unfähigkeit dürfte aber im Wachsen begriffen sein. Wenn denn die Bibel heute ein Buch mit sieben Siegeln zu werden droht, wird sie morgen ganz aus dem Bewußtsein der Menschen verschwinden. Was ist zu tun?

In dem erwähnten Film "Fahrenheit 451" haben sich ein paar wenige Frauen und Männer dem Terror der Bücherverbrennung entzogen. Sie leben einzeln oder in Gruppen in den Wäldern. Auch sie mußten Bücher verbrennen, hatten diese aber  zuvor noch gelesen. Jeder hatte sogar ein  Werk der Weltliteratur auswendig gelernt und konnte es wortwörtlich aufzusagen. Auf diese Weise bilden sie eine lebendige Bibliothek. Ihr Ziel ist es, das wichtigste Gedankengut der Menschheit für den ersehnten Tag aufzubewahren, an dem wieder Bücher geschrieben und gelesen werden dürfen. Sie sind sich dessen bewußt, daß ohne sie unwiederbringliche Schätze der Menschheit für immer verloren gingen.

Noch besteht bei uns die Überzeugung, mit der Bibel ebenfalls einen unwiederbringlichen Schatz zu besitzen. Unsere Aufgabe ist es, auch unter größten geistigen Schwierigkeiten dieses kostbare Gut an die künftigen Generationen weiterzugeben. Dabei würde es aber nicht genügen, die Heilige Schrift einfach auswendig zu lernen, viel wichtiger wäre es, daß wir nicht aufhören, aus ihrem Geist zu leben. Das sind wir unseren Nachfahren schuldig. Es könnte nämlich ganz gut sein, daß sie neue, ungeahnte Seiten, die uns heute noch verschlossen sind, in der alten Bibel entdecken.


Höchstwert Arbeit?

Unseren Begriff von der Arbeit haben die Menschen nicht immer gekannt. Gemessen am Alter der Menschheit taucht er erst sehr spät auf. Als unsere Vorfahren noch das Wisent jagten und Wurzelknollen sammelten, war das für sie keine Arbeit. Erst als sie sich auf den Acker begaben der Dornen und Disteln trug, befaßten sie sich mit einer gleichbleibenden Tätigkeit, die als "Arbeit" bezeichnet werden muß. Von dieser Tätigkeit wurde schließlich das ganze Leben geprägt. Wer nicht als Bauer tätig war, hatte es nicht leicht, anerkannt zu werden. Er mußte wenigstens dafür sorgen, daß andere ihm bei der Arbeit zuschauen konnten.

Sehr bald gab es auch eine Arbeitsmoral. Sie lief darauf hinaus, daß arbeiten zu den höchsten Werten des Lebens zählte. Wir finden den Niederschlag dieser Auffassung auch in der Bibel, in der u.a. der Faulenzer ermahnt wird: "Geh hin zur Ameise, du Fauler: sieh ihre Weise an und lerne!" (Spr 6,6) Verächtlich sagt sie an einer anderen Stelle: "Der Faule dreht sich auf sei seinem Lager wie die Türe in der Angel" (Spr 26,14). Ihm gilt schließlich ihre Drohung: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" ( 2 Thess 3,10) Was wunders, wenn schon den Kindern im Kindergarten die fleißige Biene als Ideal vorgestellt wird, und Schule wie Kirche zur Arbeit anhalten. Überall in unserer Kultur wird eingehämmert, daß erst die Arbeit dem Menschen Würde verleiht. Zu welchen Konsequenzen das führen kann, hat uns in krasser Weise der Nationalsozialismus vor Augen geführt, wenn er bestimmte Menschen als lebensunwert eingestuft hat. In abgemilderter Form kennen wir es noch in der Form, wie Menschen, die nicht im Arbeitsprozeß stehen, abgewertet werden, wie z.B. ältere Menschen, die einfach zum alten Eisen gerechnet werden.

Das "Recht auf Arbeit" und die "Pflicht zu arbeiten" wird so betont, daß wir vermutlich in Schwierigkeiten kommen, wenn einmal hinreichend Güter produziert werden, ohne daß für alle Arbeit da ist.

Auf die Bibel sollte man sich nicht zu sehr berufen. Sie setzt zwar voraus, daß der Mensch, solange er Mensch ist, immer im Schweiße seines Angesichts arbeiten muß, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Daß die Verhältnisse sich einmal grundlegend ändern könnten, lag außerhalb ihres Vorstellungsbereiches. Dennoch ist für die Bibel der Mensch nicht zur mühseligen Arbeit bestimmt, sondern zur Freude und Seligkeit.

Das Volk, das in ägyptischer Zwangsarbeit schmachtete, ersehnte ein Land, das von Milch und Honig fließen sollte; ein Land also, welches dem Menschen ausreichend Nahrung bot, ohne daß harte Arbeit voraufgehen musste (vgl. Ex 3,8). Im Neuen Testament werden uns als Vorbilder die Vögel des Himmels genannt, die nicht säen und ernten (vgl. Mt 6,26), und die Lilien des Feldes, die nicht spinnen müssen, um schön gekleidet zu sein (vgl. Mt 6,28-30).

Es ist daher nur gut, daß es bei uns noch Länder gibt, die die Arbeit um der Arbeit willen nie selig gepriesen haben. Dort finden wir noch Leute wie den Schuster, dem ein eifriger Mitteleuropäer vorschlägt, doch mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen. „Nein", gibt der Schuster zur Antwort, "das wäre sehr töricht von mir. Denn sieh', ich könnte doch sterben - ich hoffe zwar nicht, daß ich sterben werde -, aber ich könnte doch sterben und dann - dann hätte ich ganz umsonst gearbeitet!"


Du sollst Dir kein Bildnis machen

"Mit dem ersten Blick weiß ich, mit wem ich es zu tun habe", rühmen sich mit Vorliebe die sogenannten Menschenkenner. Sehr schnell ist das Bild fertig, das sie sich von ihrem Gegenüber machen, kaum dass der andere das Zimmer betreten und ihnen die Hand gereicht hat. Nichts und niemand kann dieses Bild, daß sie für alle Zeit von ihren Mitmenschen in sich tragen, ändern. Oft lassen sie sich noch wegen ihrer Sicherheit in der Menschenkenntnis bewundern!

Es ist jedoch mehr als fraglich, ob ein Mensch vom andern ein zutreffendes Bild haben kann, am allerwenigsten dann, wenn nicht die Bereitschaft besteht, es ständig zu ändern. Viel Unrecht geschieht, weil man sich seines Urteils über den andern so gewiß ist. In dem Roman von Max Frisch "Stiller" beschwert sich eine Frau namens Julika bitter bei ihrem Mann: "So also siehst du mich!....du hast dir nun einmal ein Bildnis von mir gemacht, das merke ich schon, ein fertiges und endgültiges Bildnis und damit Schluß. Anders als so, ich spürte es ja, willst du mich jetzt einfach nicht mehr sehen," Dann kommt sie auf ein Gebot des Alten Testamentes zu sprechen: "Nicht umsonst" so fährt sie fort "heißt es in den Geboten: Du sollst dir kein Bildnis machen! Jedes Bildnis ist eine Sünde, es ist genau das Gegenteil von Liebe...Wenn man einen Menschen liebt, so läßt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist doch trotz aller Erinnerungen bereit zu staunen, immer wieder zu staunen, wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie du es dir machst von deiner Julika." Und fast beschwörend beschließt sie diese Sätze: "Ich kann dir nur sagen, es ist nicht so....du sollst dir kein Bildnis machen von mir!"

Diese Gedanken, mit denen Julika bei ihrem Mann um ein besseres Verständnis wirbt, stammen nicht von ihr selbst. Sie verdankt sie nach dem Roman einem jungen Theologen, der diese seinerseits aus dem Studium der Hl. Schrift abgeleitet haben mag. Tatsächlich kennt das Alte Testament ein diesbezügliches Verbot: "Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen von dem, was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde ist" (Ex 20,4). Die Juden durften sich demnach kein Bild und keine Figur ihres Gottes schaffen. Damit standen sie auf einer einsamen Höhe der Frömmigkeit gegenüber den Völkern, die um sie herum wohnten. Der unsichtbare und geheimnisvolle Gott, den sie verehrten, war nicht faßbar in menschlicher Vorstellung. Interessant ist, daß sich das Verbot schließlich auf alle Bilder bezog, auch auf Bilder von Menschen.

Vielleicht wird das verständlich, wenn man bedenkt, daß ja der Mensch als Abbild Gottes angesehen wurde. So ist er der „geschaffene Gott", und sein Bild von ihm ist ähnlich unzulänglich wie ein Bild des ungeschaffenen Gottes. Das ist natürlich eine Auffassung, die über das hinausgeht, was uns die Psychologie von der Vielschichtigkeit und dem Geheimnis des Menschen sagen kann. Immerhin sind wir mit den Erkenntnissen, die uns diese Wissenschaft geschenkt hat, sehr viel vorsichtiger geworden im Urteil über einen anderen Menschen. Je stärker diese Wissenschaft in die Tiefe vorstößt, umso unfaßbarer wird der Mensch. Schon allein diese Erkenntnisse erlauben es uns nicht, ein fertiges Bild vom Mitmenschen zu haben. Erst recht wird uns diese Möglichkeit genommen, wenn wir anerkennen, daß der Mensch einem Gotte ähnlich ist.


Wohlstand für Alle?

"Wohlstand für Alle" ist die Parole, die seit Jahren in unsere Ohren tönt und im Grunde unser Gefallen erregt. Zwar sind einige Kritiker aufgetreten, die versucht haben, diese Parole als hohl und oberflächlich abzutun. Sie haben aber bei uns keinen Erfolg gehabt. Das wirtschaftliche Ziel eines allgemeinen Wohlstandes bleibt unerschütterlich bestehen. Selbst eine Flaute kann nichts daran ändern. Sie erhöht sogar die Bereitschaft, noch mehr Kraft für die Erreichung des einmal gesteckten  Zieles einzusetzen. Und wer wollte leugnen, daß Beachtliches erreicht worden ist?

"Wohlstand für Alle"? Wer ist mit Allen gemeint? Nur die Bundesrepublik und die Länder die zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören? Das wäre ein primitiver Gruppenegoismus, der sich der notwendigen Verantwortung für die Gesamtmenschheit entzieht; d.h. wenn die Parole "Wohlstand für Alle" ausgegeben wird, dann müssen wir, wollen wir uns selbst nicht widersprechen, auch wirklich Alle meinen.

Nach Papst Paul VI. geht es darum - so wörtlich -, "eine Welt zu bauen, wo jeder Mensch... ein volles menschliches Leben führen kann..., eine Welt, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann". Richtig verstanden ist also von Papst Paul die Parole "Wohlstand für Alle" aufgenommen und sogar als christlich ausgegeben worden, wenn anerkannt wird, dass sie für die ganze Menschheit gilt.

Wirkt eine solche Zielsetzung angesichts der weltweiten Notlage nicht geradezu lächerlich? Die Experten, die die Situation kennen und die Entwicklung voraussehen, sind äußerst pessimistisch. Wenn nicht ganz einschneidende Maßnahmen getroffen werden, ist eine Katastrophe, in die auch die kultivierten Länder hineingezogen werden, unvermeidlich.

Paul VI. weiß das und beharrt dennoch auf dem Ziel. Das erfordert von uns ein hohes Maß an Großzügigkeit. Machen wir uns ruhig bereit auf Verzichte, die alles Bisherige in den Schatten stellen werden. Sind wir bereit, was uns das Rundschreiben des Papstes dringend nahelegt, mehr Steuern zu zahlen, damit der Staat mehr für die Entwicklungshilfe geben kann, höhere Preise für Importe zu zahlen, damit die Erzeuger in anderen Ländern einen gerechteren Lohn bekommen können, notfalls von daheim wegzugehen, um als Entwicklungshelfer zu wirken.

Vielleicht aber wird durch das bisher Gesagte noch immer nicht deutlich, was von uns verlangt wird. In einem Buch über die Zukunft der Kirche ist das hart formuliert. Danach werden wir mit einem allgemeinen Wohlstand in absehbarer Zeit nicht rechnen dürfen. Ein Zitat: "Die Welt von morgen wird nur eine arme sein können." Mag also das Ziel „Wohlstand für Alle" aufrecht erhalten bleiben. Unsere christliche Solidarität mit allen könnte dann fordern, daß wir hoffentlich nur vorübergehend eine andere Parole verwirklichen: "Existenzminimum für alle" Es wird noch offen sein, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, alle auf ein gleich tiefes Niveau herunterzudrücken. Sollte es sich herausstellen, daß es für die Gesamtentwicklung notwendig ist, dann sind wir als Christen die Ersten, die sich für die fälligen Einschränkungen bereithalten müssen.


Das Leben lieben

Wer morgens noch müde ist, hat entweder zu wenig oder zu viel geschlafen. Ja, zuviel Schlaf macht auch müde. Mit einem geregelten Maß an Schlaf ist dieser Müdigkeit schnell beizukommen. Schwieriger ist es schon bei denen, die trotz geregelten Schlafes immer müde sind. Hier müßte ein Arzt zu Rate gezogen werden. Ärztliche Kunst will aber da versagen, wo die Müdigkeit sich wie ein Leichentuch über das gesamte Leben breitet. Bei diesen,, Lebensmüden, wie man sie nennt, kommt oft jedes Heilverfahren zu spät. Die Überdosis Schlaftabletten, der geöffnete Gashahn, das Giftfläschchen macht alles illusorisch.

Die Dichterin Simone de Beauvoir beschreibt in der Schlußszene ihres Romans: "Die Mandarine von Paris" die Gedanken und Gefühle einer Frau, die ihres Lebens müde ist. Im Handschuhkasten verwahrt sie ein Fläschchen mit Gift. Nichts liegt ihr mehr am Leben. In ihrem Beruf sieht sie keinen Sinn mehr, ihre Tochter ist verheiratet. "Ich bedeute ihr nichts mehr", denkt sie. Mit ihrem Mann ist sie glücklich gewesen. Mittlerweile geht er ganz in seiner Schriftstellerei auf. Und ihr kleines Enkelkind Maria? Es wird später nicht einmal wissen, daß es eine Großmutter gehabt hat. Was könnte sie also noch ans Leben binden? Alles in ihr willigt in den Tod ein. Die natürliche Angst vor ihm hat sie verloren. Selbst die ärgerliche Stimme ihrer Tochter erreicht sie nicht mehr, die ausruft: "Mama hätte Maria nicht allein lassen sollen!"

In Wirklichkeit erreicht sie dieser Ruf doch. Plötzlich nämlich hat diese Stimme ein Echo in ihr geweckt. Sie fragt sich: "Ist etwas vorgefallen? Der kleinen Maria könnte etwas zugestoßen sein?" Da auf einmal fühlt sie sich nicht mehr allein und versucht sich vorzustellen, wie es auf die Anderen wirken muß, wenn sie tot auf dem Bett liegt. Sie sieht ihren Mann, der sich über sie beugt, hört das Schluchzen ihrer Tochter, es wird ihr bewußt, daß ihr Tod nicht ihr gehört. So findet diese Frau wieder ins Leben zurück. Wörtlich schließt der Roman: "Ich sage mir: Nachdem sie stark genug sind, mich dem Tod zu entreißen, wissen sie vielleicht, mir zu neuem Leben zu verhelfen. Bestimmt können sie das... Da mein Herz weiter schlägt, muß es wohl für etwas, für jemanden schlagen. Da ich nicht taub bin, werde ich neue Anrufe vernehmen. Wer weiß?",

Meine verehrten Hörer, Lebensmüde gibt es häufiger, als wir ahnen. Ich bin überzeugt, daß manche Katastrophen vermieden werden könnten, wenn der richtige Anruf zum Leben diese Menschen erreichte. Es müßte gelingen, jeden zu überzeugen, daß sein Leben nicht ihm gehört, sondern den Andern. Der Tod besteht darin, daß man sich auf sich selbst zurückzieht. Damit steht aber recht betrachtet jeder von uns vor der Entscheidung, ob er Tod oder Leben wählen will. Und wenn jetzt Leben und Tod gesagt wird, ist nicht nur ein körperliches Leben oder ein physisches Ende gemeint. Im ersten Johannesbrief steht: "Wir wissen, dass wir vom Tode zum Leben übergegangen sind, denn wir lieben die Brüder" (1 Joh 3,14). Wer die Brüder zurückweist, wählt den Tod, in der Sprache der Bibel sogar den ewigen Tod. Wer die Brüder liebt, liebt das Leben, das ewige Leben!