Herbert Leuninger ARCHIV MIGRATION 1981

Untersuchungen zu Integration, Akzeptanz und Kultur

zu: Ursachen der Fremdenfeindlichkeit und ihre Überwindung


INHALT

Berliner Untersuchung zur Integration und Akzeptanz

Der Berliner Senat hat Ende des vergangenen Jahres (1979) die Ergebnisse einer Befragung deutscher und ausländischer Haushalte zur Ausländerintegration vorgelegt, die das derzeit aktuellste und umfangreichste wissenschaftliche Material zur gegenseitigen Einstellung deutscher und nichtdeutscher Bürger bietet.

Dabei stellen die Wissenschaftler bei etwa der Hälfte der Deutschen eine im Prinzip positive Grundhaltung zu den in ihrer Stadt lebenden Mitbürger anderer nationaler Herkunft fest, ein Drittel ist eher negativ zu ihnen eingestellt, der Rest gilt als gleichgültig oder schwankend in seiner Einstellung.

Bei genauerer Analyse zeigt sich, daß die positiv eingestellten Deutschen vergleichsweise am häufigsten Kontakt mit Ausländern haben. Außerdem besitzen sie gegenüber den "Gleichgültigen" und "negativ Eingestellten" durchwegs eine höhere Schulbildung und eine höhere Stellung im Beruf. Schließlich stellen sie die Gruppe, die am ehesten von der Notwendigkeit überzeugt ist, daß nichtdeutsche Arbeitnehmer in Berlin und in der BRD tätig werden.

Bei denen, die sich negativ zu den Ausländern äußern, ist die Schulbildung um so geringer, je ablehnender die Antworten ausfallen. Bei den "Gleichgültigen" zeigen sich als charakteristische Gruppe die älteren, alleinstehenden Frauen mit Renten- und Pensionsbezügen und einer eher geringen Schulbildung.

Im einzelnen sind die deutschen Befragten zu 60% für die Gewährung der deutschen Staatsangehörigkeit an die Mitbürger anderer Muttersprache, überraschenderweise nur aber zu etwa 40% für die Gewährung gleicher Sozialleistungen. (Hier handelt es sich um eine im Prinzip längst erfüllte Grundforderung der Gewerkschaften). Ein gutes Drittel ist gegen eine verbesserte Beteiligung der nichtdeutschen Arbeitnehmer am politischen und gesellschaftlichen Leben. Ein Viertel nur für ein unbeschränktes, allgemeines Wahlrecht.

Weniger als die Hälfte sprechen sich dafür aus, daß die Familienzusammenführung ermöglicht wird, ähnlich groß ist dann auch die Gruppe, die sich für die finanzielle Förderung der Rückkehrbereitschaft ausspricht. Überraschend wird von 44% geglaubt, daß man auf ausländische Arbeiter nicht angewiesen sei. Hier kann man vielleicht etwas von der Distanz zu dieser Bevölkerungsgruppe seitens der Deutschen festmachen, die sich dann auch darin zeigt, daß nur ein gutes Viertel bereit ist, die Kontakte zu Fremden zu intensivieren.

Positiver eingestellt zeigen sich die Deutschen, wenn es um die Kinder geht. So hält es die Hälfte der Deutschen für ohne weiteres denkbar, daß ihre eigenen mit den ausländischen Kindern zusammen spielen. Ein beachtlicher Teil, nämlich zwei Drittel stimmen sogar dafür, daß die Schulbildung von deutschen und nichtdeutschen Kindern gemeinsam stattfindet.

Neben der Untersuchung der Einstellung der Deutschen lief die Befragung der Nichtdeutschen, an der fast 5.500 Haushalte türkischer, jugoslawischer und griechischer Nationalität teilnahmen. Dieser Teil der Untersuchung hat zwei herausragende Ergebnisse, die die gesamte Ausländerpolitik verändern müßten. Zum ersten wird die These belegt, daß die türkische Bevölkerung wesentlich integrationsfreundlicher ist, als allgemein - vor allem auch

im Rahmen fremdenfeindlicher Theorien - angenommen wird, ja sie sind im Vergleich zu Griechen und Jugoslawen, die als leicht assimilierbar gelten, bereiter zur Integration als diese. Ob damit auch eine höhere Integrationsfähigkeit gegeben ist, muß an dieser Stelle offen bleiben. Erstaunlich ist dieses Ergebnis nicht nur deswegen, weil die Öffentlichkeit von anderen Vorstellungen ausgeht, sondern insofern die Türken gerade in Berlin als stark im Ghetto lebend gelten und tatsächlich von der Untersuchung her viel separierter von den Deutschen als Griechen und Jugoslawen leben bzw. leben müssen. Das zweite Wichtige und die bisherige Ausländerpolitik in den Fundamenten erschütternde Ergebnis ist die Feststellung der Wissenschaftler, es gäbe Anhaltspunkte dafür, daß fast 80% der Ausländer wahrscheinlich auf Dauer bzw. definitiv auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben würden. Dies geht weit über meine bisherige Annahme hinaus, die zwei Drittel der nichtdeutschen Bevölkerung als eingewandert betrachtet hat.

Wie nun zeigt sich die größere Integrationsbereitschaft der Türken?

  • Die größte Rücklaufquote bei den postalisch versandten Fragebogen in der Muttersprache gab es bei den Türken (80%).
  • Bei ihnen ist die Familienzusammenführung in Berlin am stärksten fortgeschritten.
  • 83% von ihnen werden voraussichtlich auf Dauer in Berlin bzw. in Deutschland bleiben.
  • Zwar nimmt die Wahrung der kulturellen und nationalen Identität bei den Türken wie bei Griechen und Jugoslawen einen hohen Rang ein; während dies aber bei Jugoslawen Platz 1 bedeutet. rückt die Identitätswahrung bei den Türken auf Platz 3.

Naturgemäß sind nur wenige Nichtdeutsche am Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit interessiert. Mit 10 % immerhin sind es die Türken noch stärker als die beiden anderen befragten Nationalitäten.

  • Für eine Verbesserung der Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben sprechen sich Dreiviertel der Türken aus und nehmen damit einen Mittelplatz nach den Griechen und vor den Jugoslawen ein.
  • Mit den Griechen und Jugoslawen zusammen befürworten die Türken zu fast 90% eine Kindergartenbetreuung zusammen mit deutschen Kindern. Wo es um deutsch als Unterrichtssprache in der Schule geht, sind die Türken wieder an der Spitze und zwar weit vor den Griechen.

Eine für Eltern anderer ethnischer Herkunft besonders problematische Frage richtete sich darauf. wie sie sich verhalten würden, wenn sie selbst in die Heimat zurückkehrten, ihre Söhne aber in der Bundesrepublik bleiben möchten, bzw. was sie sagen würden, wenn diese einen deutschen Partner heiraten möchten.

Beides würden die Türken immerhin zu 41% bzw. zu 35% akzeptieren. Dagegen muß man die Jugoslawen und Griechen als wesentlich intoleranter bezeichnen. Bei den Jugoslawen lauten die Prozentsätze 3% bzw. 16%, bei den Griechen sind die Prozentsätze so gering, daß man davon ausgehen kann, daß sie beides praktisch überhaupt nicht akzeptieren.

Wäre nach dieser Untersuchung es nicht eines der dringendsten Erfordernisse, in der Bundesrepublik die Vorurteile gegenüber den Türken erheblich zu revidieren?

Vergleich von Italienern und Türken

Ein vom Bundesminister für Forschung und Technologie geförderter Forschungsverbund "Probleme der Ausländerbeschäftigung" hat seinen Endbericht im Sommer 1979 vorgelegt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß die Italiener und Türken von der deutschen Bevölkerung am geringsten eingestuft werden, war der Vergleich zwischen Türken und Italienern von besonderem Interesse. Die subjektive Integrationsbereitschaft der Türken ist sicher von großer Bedeutung. Dennoch darf der Grad der Separierung von der deutschen Bevölkerung nicht unterschätzt werden. Und dies, obgleich die Türken von allen anderen Nationalitäten die Deutschen am positivsten bewerten, Wenn allerdings gesagt wird, daß die türkische Wohnbevölkerung für die Integration besonders problematisch sei, wird vergessen, daß wir eine italienische Arbeitnehmerbevölkerung haben, deren Integrationsproblematik unter gewissen Umständen nicht gering ist. So gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen Italienern und Türken darin, daß sie zu 80 % un- und angelernte Arbeiter sind. Damit unterscheiden sie sich ganz erheblich nicht nur von den anderen Nationalitäten, sondern vor allem natürlich von der deutschen Arbeitnehmerbevölkerung.

Bei den Einkommensverhältnissen fallen die Italiener auf durch einen relativ hohen Anteil derer, die ein Einkommen über DM 1.000, -- haben, und durch einen besonders niedrigen Anteil mit Familieneinkommen über DM 2.500,-- monatlich. Es ist Realität, daß Ausländer bei schlechter Wohnqualität verhältnismäßig höhere Mieten zu bezahlen haben. Im Vergleich der ausländischen Nationen untereinander fällt auf, daß bei den Türken der Anteil der Befragten mit schlechter Wohnqualität bei vergleichbarer Miethöhe stets am geringsten ist. Bei Mieten über DM 400,-- gibt es unter den türkischen Befragten niemanden mehr mit schlechter Wohnqualität, bei den Italienern sind es in dieser Gruppe immerhin noch 11 %, bei den Jugoslawen und bei Spaniern 10% der Befragten.

Ein gravierender Unterschied zwischen Türken und Italienern ist darin zu sehen, daß 86% der Italiener aus unterentwickelten Regionen kommen. Das gilt bei den Türken nur von 4%. Der ostanatolische Bauer ist also statistisch gesehen fast eine Chimäre. Auf der Skala der Schulbildung nehmen die Türken Platz 3 ein, die Italiener Platz 4 und die Spanier erstaunlicherweise Platz 5.

  • Facharbeiter in der Heimat waren bei den Türken über 55%, bei den Italienern aber nur ein knappes Drittel. Den Aufstieg vom Hilfsarbeiter zum Facharbeiter haben 6% Italiener, aber 9% Türken geschafft.
  • Ihre Chancen durch Berufsausbildung hat jeder 4. Italiener, aber fast jeder 3. Türke verbessert.
  • Weiterreichende berufliche Ziele haben 82% der Türken, bei der Italienern ist es gerade die Hälfte.
  • Kontaktfreudiger als die Italiener im Betrieb untereinander sind die Türken.
  • Private Kontakte mit Deutschen im Betrieb haben Türken doppelt so oft wie Italiener. Überhaupt haben Italiener geringe private Kontakte innerhalb und außerhalb des Betriebs mit Deutschen. Außerhalb des Betriebs sieht es allerdings auch bei Türken anders aus; sie haben zu 40% keinerlei Kontakt im Wohnbereich. Sie sind damit kontaktärmer als die Italiener.
  • Der Integrierte Endbericht stellt fest, daß 30% aller Türken in Bezug auf das Wohnhaus in ghettoähnlichen Zuständen leben. Hier beißt sich die integrationspolitische Katze gewissermaßen in den Schwanz: subjektive Integrationsbereitschaft auf der einen Seite, andererseits aber geringe Möglichkeiten zur Integration.

Die Schweiz ist nicht überfremdet - sind wir es dann?

Die Frage nach der Überfremdung oder nach der kulturellen Beeinflussung der Schweiz durch die Ausländer ist im Rahmen der sog. Überfremdungsinitiativen intensiv diskutiert worden. Die Eidgenössische Konsultativkommission für das Ausländerproblem ist dieser Frage einmal gründlich nachgegangen und hat vor einem Jahr (Dezember 1979) eine Einschätzung der kulturellen Aspekte des Ausländerproblems vorgelegt.

Das wesentliche Ergebnis der Untersuchung im voraus:

  • Die Anwesenheit der Ausländer gefährdet nicht den Fortbestand der Sprachen in den herkömmlichen Sprachgebieten.
  • Die Ausländer haben weder die weltanschauliche Einstellung noch die politische Eigenständigkeit der Schweiz negativ beeinflusst. Die Angst vor einer politischen Unterwanderung hat sich als unbegründet erwiesen.
  • Der Einfluß der Ausländer-Kinder auf ihre schweizerischen Altersgenossen durch die Vermittlung von Werten, Kenntnissen und Verhaltensnormen aus ihrer Herkunftskultur ist gering.

Die Schweizer befassen sich auch mit den kulturverändernden Einflüssen der Ausländer, die auf dem Gebiet der Bildung, Wissenschaft und Forschung tätig sind, des weiteren mit dem Einfluß der konfessionellen Verschiebung in der Bevölkerungsstruktur, mit den Einflüssen, die sich aus den Investitionen ausländischen Kapitals ergeben und nicht zuletzt mit dem Einfluß der ausländischen Massenmedien, letzteres natürlich für die Schweiz durch ihre geringe Größe, die zentrale Lage in Europa und die Teilhabe an 3 Sprach- und Kulturgebieten von besonderer Bedeutung.

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, daß die Anwesenheit einer großen Zahl von Ausländern, die sich bisher kaum negativ auf die schweizerische kulturelle Eigenart ausgewirkt habe. Im Gegenteil: Die Ausländerpräsenz, wie anderer grenzüberschreitender Austausch von Ideen und die Verstärkung der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit bedeuteten für die Schweiz und ihre Bevölkerung in verschiedener Hinsicht eine Bereicherung.

Es wäre an der Zeit, eine solche Analyse der kulturellen Veränderung und Einflüsse in der Bundesrepublik zu erarbeiten. Vielleicht würde man recht bald feststellen, wer unsere Kultur seit dem 2. Weltkrieg maßgeblich verändert hat. Immerhin dürfte es hierbei von besonderem Interesse sein, welche Rolle bei der kulturellen Veränderung in der Bundesrepublik die politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung mit der Europäischen Gemeinschaft, mit Europa, mit der NATO und vor allem auch mit den USA gespielt hat.

Kulturelle Identität

In seinem Lernbericht, vorgelegt im Sommer 1979 in Salzburg, zählt der Club of Rome die kulturelle Identität zu den grundlegenden nicht-materiellen Bedürfnissen ( A. Peccei [Hrsg.], Das Menschliche Dilemma, Zukunft und Lernen, Wien 1979, S, 182-188).

Die Forderung nach kultureller Identität werde zunehmend zur Ursache internationaler Konflikte. Die damit aufgeworfenen Fragen seien brisanter als irgendeines der finanziellen und ökonomischen Themen, die den Nord- Süd- Dialog zum Stillstand gebracht hätten.

Einerseits bestehe die Gefahr einer kulturellen Homogenisierung, d.h., daß die Welt vielleicht eine einzige, gleichartige Kulturform annehmen könnte und die größere Gefahr, die damit zusammenhängt, daß es zu einem kulturellen und geistigen Verfall auf regionaler Ebene komme. Die Wurzeln hierfür lägen in einer aggressiven Ethnozentrik, die für den Norden charakteristisch sei und den Hintergrund des Kolonialismus gebildet habe.

Für eine Veränderung, für eine neue Lernperspektive, bräuchten wir ein multilaterales Wertspektrum; dies sei eine Voraussetzung für Partnerschaft und Zusammenarbeit in der Welt. Dabei gehe Vielfalt nicht auf Kosten der Einheit. Kulturelle Autonomie sei mit Integration vereinbar. Daher muß die Suche nach kultureller Identität keinesfalls mit Isolation und Rückzug gleichgesetzt werden.

Greifen wir diese Vorstellungen und Begriffe auf, so kann dies unter dem Eindruck geschehen, daß wir in der Bundesrepublik vor einer ähnlichen Problematik stehen, nämlich vor einer ethnozentrischen Aggressivität, die die Angst vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität mit dem Abdrängen des Fremden zu kompensieren sucht. Dabei wird es viel eher darum gehen, unsere kulturelle Identität auf einem multikulturellen Hintergrund zu sehen und zu überlegen, wie diese neue Realität der Anwesenheit von Menschen verschiedenster Herkunft Kultur, Religion und Sprache in unserem Land zu einer positiven Veränderung unseres kulturellen Verhaltens führen kann. Dies auch der Versuch der Kirchen im Zusammenhang mit dem Tag des ausländischen Mitbürgers "Verschiedene Kulturen - gleiche Rechte - für eine gemeinsame Zukunft". Als Diskussionsanregung und weiterführende Gedanken sind kirchlicherseits Thesen ins Spiel gebracht worden, deren erste sicher sehr herausfordernd lautet: "Die Bundesrepublik Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft."


Ergänzungen (Jan. 1981) zum Referat vor dem Katholischen Arbeitskreis für Fragen ausländischer Arbeitnehmer des Kommissariates der Deutschen Bischöfe am 5. November 1980 im Katholischen Büro, Bonn;
veröffentlicht in: Caritas. Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, H. 3/1981, S, 117-125