Frankfurter Rundschau vom 24. August 2001

Das Auge der Öffentlichkeit im Flüchtlingslager

Der evangelische Pfarrer Gerhard Mey verlässt nach zehn Jahren die Erstaufnahmeeinrichtung in Schwalbach

Christine Vaternahm


Zehn Jahre lang hat der umtriebige Theologe Gerhard Mey die Menschen in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Schwalbach (Main-Taunus-Kreis) betreut. Jetzt geht er in den Ruhestand. Am Sonntag, 26. August, wird er um 10 Uhr in der evangelischen Friedenskirche in Schwalbach verabschiedet.

SCHWALBACH. Am Ende seines beruflichen Weges geht er ins Kloster. Gerhard Mey, zehn Jahre lang Flüchtlingspfarrer in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge (HEAE) in Schwalbach, hat aus seinen Fehlern gelernt. Denn früher, so sagt er, habe er Wechsel immer rasch vollzögen. Ohne sich einen Zwischenraum zu gönnen, in dem er über das Gewesene nachgedacht und es verarbeitet hätte. "Damals war ich eben noch jung und dachte, ich kann das alles so wegstecken", sagt er und stößt ein Rauchwölkchen aus. Die Pfeife voller würzig duftendem Tabak ist obligatorisch.

Nach einem aktivistischen Leben habe er jetzt Bedarf an ein wenig Kontemplation, sagt er. Bei den Zisterziensern wolle er sich einen Monat lang auf deren 1000 Jahre alte Disziplin einlassen. "Das hat Kaiser Karl genauso gemacht." Wehmut schwinge mit, wenn er die HEAE verlasse, sagt Mey und versinkt kurz in Gedanken. "Aber auch Erleichterung, denn es gab so viele Fälle, bei denen man mit leiden, aber nicht viel tun konnte."

Der Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien, zum Beispiel. Der fließend Deutsch sprach und eines Tages draußen am Zaun stand. Er hatte 28 Jahre lang in Deutschland geschuftet, um sich ein Haus in Sarajewo bauen zu können. Kaum war es fertig, zerstörten es Granaten. "Er verstand die Welt nicht mehr, weil er nun als Flüchtling gekommen war und nicht arbeiten durfte wie früher", erinnert sich Mey.

Oder der Mann aus Tschetschenien, der ihm erzählte, wie er zerfetzte, halb verweste Leichen eingesammelt und begraben habe. "Es graust einen, wenn man das hört. Aber man weiß, dass man durch das Zuhören etwas Gutes tut. Der Mann kann endlich loswerden, was er erlebt hat, sich den Druck von der Seele reden." Doch beim Zuhören hat Mey es nicht bewenden lassen.

Alle zwei Wochen organisierte er zusammen mit Ehrenamtlichen einen Gottesdienst in der HEAE. "Sie haben sich sehr engagiert, haben Liturgien für die Menschen aus verschiedenen Ländern ausgearbeitet, das war wie alle zwei Wochen ein Weltgebetstag", sagt der Pfarrer. Als es Streit um die Erweiterung der Einrichtung gab, hat er sich dafür eingesetzt, dass mehr staatliche Sozialarbeiter eingestellt werden; er hat Druck gemacht, als wochenlang die Toiletten in den Baracken defekt waren und rund 100 Menschen ein einziges Klo benutzen mussten.

Streiten hat er gelernt. Bei der Firma MAN hat Mey 14 Jahre lang als angelernter Arbeiter im Akkord Knochenarbeit geleistet. Er hat Stahlbleche gerichtet, tonnenschwere Längsträger für Lastwagen

mit dem Kran gewuchtet - und für die Interessen der Arbeitnehmer gekämpft. Denn er konnte reden; sein gewerkschaftlicher Aufstieg ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauensmann wurde er, schließlich freigestellter Betriebsrat, "sie wollten mich sogar in den Aufsichtsrat holen", sagt der heute 60-Jährige. Da sei er der Meinung gewesen, dass ein Wechsel anstehe. "Ich war wieder zum Schreibtischtäter geworden", sagt er schmunzelnd. Also zurück in den kirchlichen Dienst. Doch zum Gemeindepfarrer fühlte er sich nicht berufen. Als 1991 die Stelle in der HEAE eingerichtet wurde, nahm er die.

Ein Kulturschock, wie er sagt: In der Industrie seien die Entscheidungen des Vorstands umgehend umgesetzt worden. "Nicht so bei der Kirche, da konnten Prozesse laufen, nichts tat sich. Gehandelt wurde erst, wenn das Kind im Brunnen lag." Dass er bis zum Schluss keine Stellenbeschreibung bekam, ließ ihm Freiheit, verunsicherte aber auch. Doch Mey blieb ruhender Pol, improvisierte. Dabei halfen ihm die Erfahrungen, die er in afrikanischen Kamerun gesammelt hatte. Vier Jahre lang hatte er dort für die Gossner Mission gearbeitet, eins seiner drei Kinder wurde in Kamerun geboren.

In der HEAE habe ihm das Zuständigkeitsdenken der Ämter am meisten zu schaffen gemacht und die alltägliche Grausamkeit gegen Flüchtlinge, die nur schwer vermittelbar sei, sagt Mey. Aber es beruhige ihn, dass seine Stelle wieder besetzt werde, denn "wir sind das Auge der Öffentlichkeit in einem ihr entzogenen Bereich".