Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1981

Assimilation oder eigenständige Entwicklung?

INHALT

„Wir wollen kein Nationalitätenstaat werden!" Dies sagte Bundeskanzler Helmut Schmidt anläßlich eines Besuches des jugoslawischen Ministerpräsidenten Djuranovic am Anfang des Jahres. Damit spielte Schmidt auf die permanenten Spannungen eines Vielvölkerstaates wie Jugoslawien an, die er sich für die Bundesrepublik nicht wünscht. Gleichzeitig ist diese Äußerung wohl als Hinweis zu verstehen, daß die Bundesregierung kein pluralistisches Konzept bei der Eingliederung von Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft begünstigt.

Um was es dem Bundeskanzler geht, wird bei den weiteren Aussagen, die sich auf die Integration der Kinder ausländischer Arbeitnehmer beziehen, deutlich. Diese Kinder sollten die gleiche schulische und gewerbliche Ausbildung wie deutsche Kinder erhalten. Wir würden uns freuen, meint Schmidt, wenn die jungen Menschen nach ihrer Ausbildung nach Hause, nach Jugoslawien gingen. Wenn sie hierbleiben wollten, würden wir uns freuen, wenn sie deutsche Staatsbürger würden. „Entweder das eine oder das andere!` Man könnte. diese klare Alternative vielleicht auch so formulieren: Deutschland verlassen oder Deutsche werden! Damit scheint die Frage nach der Assimilierung oder einer eigen ständigen (kulturellen) Entwicklung politisch im Sinne einer Angleichung und Eindeutschung beantwortet.

 Die pointierten Sätze des Kanzlers müssen nicht unbedingt so verstanden werden, wie sie hier interpretiert sind. Man kann sicher deutscher Staatsbürger werden und damit die nationale Identität aufgeben, ohne aber sich zwangsläufig von der Herkunftskultur abwenden zu müssen. Es leben ungezählte deutsche Staatsbürger in der Bundesrepublik, die aus anderen Ländern z. B. Osteuropas stammen und sich in wissenschaftlichen, kulturellen, kirchlichen und auch politischen Zirkeln und Vereinen in intensiver Form mit ihrem Herkunftsland befassen und ihre Kultur pflegen, vor allem natürlich die Muttersprache. Tatsächlich verlangen die Einbürgerungsrichtlinien, wie sie seit 1978 gelten, normalerweise zwar die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft, nicht aber den Nachweis einer Abwendung von Herkunftskultur und -sprache, es sei denn, man wollte die geforderte freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland und das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Ordnung in diesem Sinne auslegen. Dies wäre dann möglich, wenn die Hinwendung zu Deutschland in einer Weise „aus der nach dem bisherigen Gesamtverhalten zu beurteilenden grundsätzlichen Einstellung zum deutschen Kulturkreis" geschlossen wird, der die Prägung durch einen anderen Kulturkreis widersprechen müßte. Hier sind die Richtlinien vielleicht aber doch pragmatischer zu sehen, wenn sie als weitere Voraussetzung der Einbürgerung die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse verlangen, die in der Regel ein langfristiges Einleben in die deutsche Umwelt voraussetzt.

Einbürgerung von Kindern und Jugendlichen

Das Bundeskabinett hat im März 1980 einen Beschluß zur „Weiterentwicklung der Ausländerpolitik" gefaßt und befürwortet darin einen Einbürgerungsanspruch für hier aufgewachsene Kinder ausländischer Arbeitnehmer, die den überwiegenden Teil ihrer Schulbildung in der Bundesrepublik erhalten haben. Damit unterstützt die Bundesregierung eine diesbezügliche Gesetzesinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat, die vorerst aber gescheitert ist. Daher ist vorgesehen, daß der Bundesminister des Innern die Einbürgerungsrichtlinien im Einvernehmen mit den Ländern entsprechend ändert. Zu prüfen wäre dann im wesentlichen nur noch, ob der Antragsteller; der das 18. Lebensjahr vollendet hat, seit Vollendung des 12. Lebensjahres rechtmäßig seinen dauernden Aufenthalt im Inland hatte und sich darüber hinaus vorher insgesamt mindestens zwei Jahre hier aufgehalten hat. Die Hinwendung zu Deutschland und die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse wird dann wohl als gegeben vorausgesetzt.

Diese Initiative muß dann aber auch im Zusammenhang mit grundsätzlichen Äußerungen des genannten Kabinettsbeschlusses gesehen werden, wonach Integration bei der deutschen Bevölkerung die Bereitschaft voraussetzt, die kulturelle Eigenständigkeit der Ausländer voll anzuerkennen und zugleich bei deren Eingliederung in unsere Gesellschaft mitzuwirken. Zuvor hatte es geheißen, daß eine Integrationspolitik für die Ausländer und deren Herkunftsstaaten nur akzeptabel sei, wenn sie keine Entfremdung der Kinder und Jugendlichen von der heimatlichen Kultur zum Ziele habe. Vor allem im Rahmen der Bildungspolitik sei deshalb darauf zu achten, dass ein Bezug der ausländischen Kinder und Jugendlichen zum Kulturkreis ihrer Familien gewahrt bleibe. Konsequenterweise wird hierfür angemessener muttersprachlicher Unterricht unter deutscher Schulaufsicht und die Anerkennung der Muttersprache anstelle einer Pflichtfremdsprache gefordert.

Natürlich sind dies Maßnahmen bisher immer so gedacht gewesen, daß sie im Rahmen der Förderung der Rückkehr möglichst vieler ausländischer Familien die Rückkehrfähigkeit nicht beeinträchtigen. Dieses Ziel besteht auch nach wie vor, vielleicht jetzt sogar wieder verstärkt. Es ist auch durchaus im Konzept der Bundesregierung enthalten, wenn es z. B. - ausgesprochen realitätsfern - heißt: „Ob der Aufenthalt in der Bundesrepublik und die Integration in unser gesellschaftliches Leben im Einzelfall in die Einwanderung münden, muß der Ausländer selbst entscheiden." Immerhin kann aber aus dem bisher Gesagten der Schluß gezogen werden, daß Einbürgerung politisch gesehen nicht unbedingt Assimilation heißt bzw. heißen muß, sondern durchaus kulturelle Eigenständigkeit ermöglicht.

Angst vor Überfremdung

Doch hat sich mittlerweile der aktuelle Diskussionsstand erheblich verschoben und es ist erneut die Frage aufzuwerfen, ob daß, was der Bundeskanzler in durchaus freundlichen Wendungen auf die jugoslawische Seite hin gesagt hat, auf die Maxime hinausläuft: Entweder paßt sich ein Ausländer an oder er geht wieder in das Herkunftsland: Eine Eigenständigkeit, kulturelle Autonomie und damit auch kulturelle Vielfalt werden nicht akzeptiert, zumindest nicht bei den Einwanderungsgruppen, deren Kultur deutliche Unterschiede zu unserem Kulturkreis einschließt. Wie gesagt, die Diskussion hat sich verschoben, Gedanken der nationalen Identität, die Angst vor Überfremdung und die Sorge um die Entstehung von Ghettos lassen derzeit kaum mehr als Schwarzweißmalerei zu. Kirchliche Thesen, die die Bundesrepublik als eine multikulturelle Gesellschaft bezeichnen, gelten als regelrechte Reizthemen. In dieser Lage bekommen dann andere, bisher nicht zitierte Passagen des Kabinettsbeschlusses ein besonderes Gewicht, wo etwa ein Unterschied gemacht wird zwischen Ausländern die integrationsfähig und -willig sind und den anderen, die diese Eigenschaften offensichtlich nicht besitzen. Außerdem wird die Sorge geäußert, es könnten sich bei Erleichterung der Einbürgerung auch für die erste Generation fremdsprachige Minderheiten mit deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik entwickeln, die für soziale Krisen besonders anfällig sind. Es wären Eingebürgerte, die trotz des rechtlichen Bandes der Staatsangehörigkeit innerlich in Deutschland Fremde blieben.

Diese Entwicklung zeichnet sich im Rahmen eines umfangreichen Einwanderungsprozesses, den man sich wenigstens in der Öffentlichkeit nie eingestehen wollte, ab. Dabei ist es völlig sekundär, ob eine Einbürgerung erleichtert wird oder nicht, ob Assimilation gewollt wird oder nicht. Es kommt nur darauf an, wie man mit diesem Phänomen fertig wird. Die Mehrheit wird mit kulturell anders geprägten Menschen leben müssen, wobei es sehr entscheidend ist, welche Formen für dieses kulturell vielseitige Miteinander gefunden und gepflegt werden. Absolut unzureichend ist es, eine durch die Europäische Gemeinschaft und die internationale Verflechtung längst relativierte nationalstaatliche Existenz zu übersteigern und die Ab- oder Ausweisung von Menschen anderer kultureller Herkunft zu patriotischen Akten hochzustilisieren.

 

Anpassungsdruck im Aufnahmeland

Assimilierung oder Verlassen der Bundesrepublik - ist das die einzige Alternative für eine Integrationspolitik? Sicher läßt sich eine Einwanderung, in der Hunderttausende Familien verschiedenster sozialer, kultureller und ethnischer Prägung begriffen sind, nicht auf eine so simple, wenn auch suggestive Formel bringen. Eine Einwanderung dieses Stils und Umfangs verläuft sehr differenziert, wobei in der dritten Generation erfahrungsgemäß die Form der Eingliederung erreicht wird, die gemeinhin als Assimilierung oder völlige Angleichung bezeichnet wird.

Mit jeder Einwanderung ist ein starker Anpassungsdruck seitens der Aufnahmegesellschaft verbunden, dem unschätzbare menschliche Opfer gebracht werden. Auch ohne besondere politische Maßnahmen und Zielvorgaben muß jeder, der für längere Zeit oder auf Dauer in ein anderes Land- geht, sich den dort geltenden Gepflogenheiten, Verhaltensweisen und Lebensumständen anpassen. Ein Teil der Einwanderer gibt diesem Anpassungsdruck schnell und weitgehend nach, vielleicht sogar bis zur Aufgabe und Preisgabe der bisherigen Identität. Es sind dies oft Menschen, die von ihrer Herkunft und Bildung her über Kulturtechniken verfügen, die es ihnen weitgehend erlauben, das Fremde einer anderen Kultur in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Diese Form der Anpassung wird von der Aufnahmegesellschaft gern gesehen und entsprechend honoriert. Es sind die „Integrationsfähigen und -willigen", deren Angleichung mit dem Angebot chancengleicher Partizipation 'belohnt wird. Sie werden den anderen gegenübergestellt, die diese Anpassung nicht leisten, weil sie sie nicht - noch nicht? - leisten können oder weil sie sie in der gewünschten Form nicht leisten wollen.

Es ist schwer zu sagen, wie groß der Prozentsatz der Einwanderer ist, der sich relativ schnell assimiliert. Wobei noch sehr ernst die Frage zu stellen ist, ob Assimilierung in dieser Form und in dieser Schnelligkeit überhaupt erstrebenswert ist. Vielleicht ist es nur eine Art Überanpassung, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als chronische Desintegration auswirkt.

Als Fremdkörper abgestoßen

Einwanderer, die dem Anpassungsdruck nicht entsprechen oder sich ihm &xnbsp;sogar widersetzen, laufen Gefahr als „Fremdkörper" von unserer Gesellschaft „abgestoßen' zu werden. Das kann psychologisch und administrativ zu einem Verlassen der Bundesrepublik führen - derzeit politisch durchaus gewollt - oder fördert eine Ghettobildung, die eigentlich nicht gewollt ist. Der Abstoßung durch die Aufnahmegesellschaft entspricht zwangsläufig die Abkapselung. Sie ist eine Form der „Eigenständigkeit", die für die Betroffenen Sicherheit bedeutet. Diese Sicherheit wird aber mit einer dauerhaften sozialen Diskriminierung bezahlt. Die Bundesrepublik wird sich auch auf diese Form der Anwesenheit von Minderheiten einstellen müssen. Nur sollte dabei aber nie vergessen werden, daß unsere Gesellschaft mit ihren Abstoßungsmechanismen und der eigenen mangelnden Integrationsfähigkeit die Hauptverantwortung dafür trägt, auch für deren Überwindung.

Assimilierung, Abwanderung und Ghettobildung sind Einwanderungsphänomene, die durch eine. entscheidende, zukunftsträchtige Variante der Integration ergänzt werden. Gemeint ist eine partnerschaftliche und chancengleiche Eingliederung, bei der die weitgehende Wahrung und Pflege der Herkunftskultur wesentlicher Bestandteil ist. Die auf Dauer gegebene Anwesenheit von Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft in unserem Land, die Ausdehnung der Europäischen Gemeinschaft und der Ausbau der Freizügigkeit mit dem Recht auf Daueraufenthalt bedeuten gleichzeitig die Existenz von Menschen, die andere kulturelle Bedürfnisse, Erfahrungen und Vorstellungen haben als die Menschen der Aufnahmegesellschaft. Sie können diesen kulturellen Hintergrund nicht einfach abstreifen, er gehört als untrennbarer Bestandteil zu ihrem Leben und zu ihrer Persönlichkeit. Sie pflegen ihre Muttersprache, organisieren sich in Vereinen und Verbänden mit kultureller Zielsetzung, sie halten Kontakte mit dem Herkunftsland und wünschen, daß ihre Kinder diese Kultur kennen und schätzen. Auf diese Weise gibt es mit den eingewanderten Minderheiten auch Minderheitskulturen; sie müssen nicht im Gegensatz zur Mehrheitskultur stehen, auch wenn dies bei ausgesprochenen Ghetto-Kulturen nicht ausgeschlossen werden kann. Zwischen einer Minderheitskultur mit weitgehender Selbständigkeit und der Mehrheitskultur können vielfältige Formen der gegenseitigen Kommunikation und Beeinflussung bestehen, die beide Seiten kontinuierlich und unmerklich verändern. Große Chancen hierfür stellt das Zusammenleben der Kinder verschiedenster ethnischer Herkunft in Kindergarten und Schule dar.

Chance von Minderheitskulturen

Massive Eindeutschung und Germanisierung können keine staatliche und behördliche Zielvorgabe sein, wenn es darum geht, die Integration beachtlicher kultureller und ethnischer Minderheiten zu fördern. Hier ist die Bundesrepublik durch ihr eigenes Grundgesetz und durch internationale Abkommen gebunden. Es muß intensiver darüber nachgedacht werden, was es heißt, Menschen, die auf Dauer in der Bundesrepublik leben, wegen ihrer Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft oder ihres Glaubens nicht zu benachteiligen und was es heißt, Gruppenrechte für Minderheiten zu schaffen. Deutschland hat seine positiven und negativen Erfahrungen mit kulturellen Minderheiten und mit einer Nation, die aus recht unterschiedlichen Volksstämmen zusammengesetzt ist. Vielleicht können für ein multikulturelles Zusammenleben Regelungen hilfreich sein, die 1955 für die dänische Minderheit getroffen wurden, auch wenn es sich hierbei um Regelungen handelt, die für eine regional zusammenwohnende Grenzlandbevölkerung gelten. So wird im Rahmen des Grundgesetzes festgestellt, daß das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei ist und von Amts wegen nicht bestritten werden darf. Angehörige der dänischen Minderheit und ihre Organisationen dürfen am Gebrauch der gewünschten Sprache nicht behindert werden. Auch wird das besondere Interesse der dänischen Minderheit, ihre religiösen, kulturellen und fachlichen Verbindungen mit Dänemark zu pflegen, anerkannt.

veröffentlicht in:
DAS PARLAMENT
Nr.35-36,
29. August/5.September 1981, S. 2