Die Ausbildung der Zweiten Generation
Eine zweite Generation von Einwanderern unterscheidet sich in ihren Erwartungen an das Aufnahmeland
wesentlich von der ersten Generation und deren Vorstellungen. Die Kinder der Einwanderer orientieren
sich ihre Chancen an ihren einheimischen Alterskollegen und an deren Erwartungen und Standards.
Daher sind sie nicht bereit, das als provisorisch gedachte Helotendasein ihrer Väter für
sich zu akzeptieren, vor allem sind sie im Rahmen ihrer Selbstachtung nicht mehr gewillt und wohl
auch außerstande, die den Angeworbenen reservierten, unattraktiven Arbeitsplätze einzunehmen
und auf eine berufliche Qualifikation zu verzichten.
Allerdings sind ihre derzeitigen Möglichkeiten auf angemessene Ausbildung in Schule und
Beruf so ungünstig, dass gerade ihre berufliche Eingliederung nur durch gesellschaftspolitische
Anstrengungen größten Umfangs verbessert werden kann.
Einer angemessenen Berufsausbildung und Eingliederung stehen entgegen:
- Die unzulängliche Schulbildung verbunden mit der Sprachbarriere (1976 in Hessen: 50%
der berufsschulpflichtigen Ausländer besuchen keine Berufsschule, 75% von ihnen haben keinen
Hauptschulabschluss und der gleiche Prozentsatz ist ohne Lehrvertrag).
- Die starke Konkurrenz im Ausbildungsbereich (der Abiturient wird dem Realschüler, der
Realschüler dem Hauptschüler, der Hauptschüler dem Sonderschüler und der
Deutsche dem Ausländer vorgezogen). Hieraus ergeben sich nicht nur eine geringe Ausbildungsquote,
sondern auch eine hohe Arbeitslosigkeit (Frankfurt 1977: die Arbeitslosigkeit jugendlicher Ausländer
liegt bei 36%; sie entspricht damit der Arbeitslosigkeit schwarzer Jugendlicher in den USA.
- Der gesetzliche Vorrang deutscher und ihnen gleichgestellter ausländischer Arbeitnehmer.
- Die Restgrößenbetrachtung der ausländischen Arbeitnehmerschaft.
- Der Versuch, das Arbeitskräftepotential der Zweiten Generation zur Bewältigung der
Friktionen auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen. Dies zeigt sich etwa bei der kürzlich erfolgten
Aufhebung der Stichtagsregelung für nachgereiste Familienangehörige. Diese Aufhebung
erfolgte nicht zuletzt, um den Arbeitskräftebedarf im Hotel- und Gaststättengewerbe
besser decken zu helfen. Dazu die FAZ in einem Kommentar fragend: Ob dies nicht auf einen neuen
Seitenpfad der Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmer führe, in dem deren Frauen und
Kinder faktisch die Tätigkeitsfelder geöffnet werden, die nun schon den altgedienten
Gastarbeitern als nicht sonderlich verlockend erscheinen.
- Dann die Substitutionsidee, nach der die ausländischen Arbeitnehmer die von ihnen eingenommenen
Arbeitsplätze Deutschen zur Verfügung stellen sollen. Egon Overbeck, Vorstandsvorsitzender
der Mannesmann AG. und Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie im
Handelsblatt: Er meint, die Bundesrepublik könne mit der Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen
nur fertig werden, wenn die Gastarbeiter wieder in ihr Heimatländer zurückkehrten
und die deutschen Jugendlichen ihre Arbeitsplätze als Hilfsarbeiter oder angelernte Angestellte
übernähmen.
In dem eben erwähnen FAZ-Kommentar ist es vorsichtiger formuliert; Wie viel wären
wir eventuell eines Tages bereit, wieder selbst zu machen – zumal von dem, was trotz allen Fortschritts
eben nur Menschen machen können? Gegen solche Vorstellungen meint allerdings die Industrie-
und Handelskammer Mittlerer Neckar 1977: In den Kerngebieten wirtschaftlicher Verdichtung sei
es überhaupt nicht möglich, geeignete deutsche Arbeitskräfte zu bekommen. So
bringe uns die Rückkehr von Ausländern keinen Schritt weiter. Auch die Vereinigung
Hessischer Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände e.V. hat sich in einer Stellungnahme an
den Hessischen Sozialminister im Februar 1977 dahingehend geäußert, dass eine bewusst
in Kauf genommene und forcierte tendenzielle Abnahme der Ausländerbeschäftigung in
einzelnen Wirtschaftsbereichen deren Interessen zuwider laufe. Vergegenwärtigen wir uns
nur in aller Kürze das ökonomische Gewicht, das die ausländischen Arbeitnehmer
allein in Frankfurt darstellen, und zwar nach einer kommunalen Arbeitsstättenzählung
von 1977. Danach sind im Baugewerbe ein Viertel Ausländer, im Hoch-Tief- und Straßenbau
fast 30%, im Hotel- und Gaststättengewerbe machen sie ein Drittel aus, im Leder-, Textil-
und Bekleidungsgewerbe sind es 40% der Arbeitskräfte und im Reinigungsgewerbe sind es fast
die Hälfte der Beschäftigten nichtdeutscher Nationalität.
Es ist sicher absurd, in diesen Bereichen im stärkeren Umfange Ausländer durch Deutsche
substituieren zu wollen. Es werden ja nicht nur in bestimmten Bereichen keine deutschen Arbeitnehmer
dafür gefunden, sondern mittlerweile auch keine ausländischen mehr. Das Reservoir
der hier lebenden ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen reicht nicht mehr
aus und die zweite Generation ist hierfür auch kaum mehr aktivierbar.
Das Drängen der Wirtschaft auf branchenspezifische Lockerungen des Anwerbestopps und
die Tatsache der Beschäftigung von Illegalen sind Anzeichen eines auch in anderen Ländern
mit noch höherer Arbeitslosigkeit bekannten Vorgangs, dass immer wieder neue Arbeitskräfte
benötigt werden, die das niedrige Anspruchsniveau von Einwanderern aus armen Regionen haben.
Die illegale Beschäftigung soll nach üblichen Schätzungen 10% der legalen Ausländerbeschäftigung
ausmachen. Nach Angaben der Ausländerbehörde Frankfurt sollen in dieser Stadt 30.000
Menschen illegal leben. Unterstellen wir bei ihnen eine Beschäftigungsquote von 50% so
sind das in Frankfurt etwa 15.000 illegale Arbeitnehmer ohne Rechts- und Versicherungsschutz.
Die zweite Generation kann nicht in dem Sinne ein ökonomischer Faktor sein, wie man sich
das gemeinhin vorstellt. Ihre legitimen und von der Kirche unterstützten Ansprüche an
unsere Gesellschaft verlangen ein Umdenken, zu dem auch die Arbeitgeber einen entscheidenden Beitrag
leisten können. Danach wäre die zweite und auch die dritte Generation als ein integraler
Bestandteil unserer Gesellschaft zu werten, dem nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche
Chancen eingeräumt werden müssen. In dieser Generation stecken enorme Begabungsreserven,
auf die nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die gesamte Gesellschaft der Bundesrepublik nicht
zuletzt angesichts des bundesdeutschen Bevölkerungsrückgangs und der damit verbundenen
Überalterung dringend angewiesen ist.
Mit Sorge sollte allerdings beachtet werden, dass unsere Gesellschaft gegenüber der Zweiten
und Dritten Einwanderergeneration eine immer größere Abwehrstellung einnimmt. Statt
nämlich die jungen Nichtdeutschen als wichtigste Erneuerungsressource zu begrüßen,
werden sie als Problemgruppe, als Konfliktpotential abgewertet. Es gibt derzeit keine politische
und journalistische Stellungnahme, ohne dass auf diese Gesellschaft Ausdrücke wie „Sozialer
Sprengstoff mit Zeitzünder", Sozialer Sprengstoff für unser Land", „Soziale
Zeitbombe" oder „Explosionsstoff der Zukunft" angewendet werden.
Hiermit wird mehr unbewusst als bewusst der Eindruck hervorgerufen, als könnten diese jungen
Menschen unserer Gesellschaft gefährlich werden. Dabei wird die Ursache mit der Wirkung verwechselt,
als wären diese Kinder und nicht unsere Gesellschaft für die zweifellos unbestreitbaren
Schädigungen einer Desintegration verantwortlich.
Auch hier muss ein Umdenken einsetzen, da eine derart angstbesetzte Einstellung zu einer bestimmten
Bevölkerungsgruppe eher für Abwehr- als für Verbesserungsmaßnahmen eintritt.
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