Herbert Leuninger

ARCHIV MIGRATION
1977

17. Juni 1977
HESSISCHER RUNDFUNK
II. Hörfunkprogramm
Sendereihe: Zur guten Besserung

Diagnose unverständlich
Ausländische Patienten und Klienten

Sendemanuskript:
Texte: Sprecher und übertragene Originaltöne

Angela: (italienisch)
Katharina: Zunge raus …

Dr. Matschke:
Soll mal den Mund aufmachen und aahh sagen, sag ihr, daß ich jetzt mal in die Ohren reinleuchte, aber daß es nicht wehtut. sag's ihr bitte.

Angela: (übersetzt)

Dr. Matschke:
sag das andere Ohr noch. Na prima. Nun will ich sie noch eben abhören. Sie soll mal schön tief einatmen mit offenem Mund.

Angela: (übersetzt)

Dr. Matschke:
Jetzt soll sie mal ganz normal weiteratmen.

Sprecher:
Katharina, 5 Jahre, wird von Frau Dr. Christa Matschke untersucht. Sie bleibt stumm wie ein Fisch, da sie nur italienisch versteht. Angela, ein Jahr älter, spricht italienisch und deutsch. Sie fungiert als Dolmetscherin. Eine Gruppe von Kindern verschiedenster nationaler Herkunft verfolgt aufmerksam diesen Vorgang. Er spielt sich an einem Donnerstag Vormittag. im Internationalen Familienzentrum. in Frankfurt-Bockenheim ab.

Regelmäßig berät die Kinderärztin Dr. Matschke Mütter aus Italien, der Türkei, aus Griechenland Spanien und Jugoslawien. Die Verständigung ist gewährleistet.

Dr. Matschke:
Dafür haben wir Dolmetscher im Hause, einen Türken für die türkische Sprache; eine Griechin, eine Jugoslawin, die gelegentlich hier mitarbeitet. Es ist möglich für alle Sprachen einen Dolmetscher zu bekommen und daß man dann gemeinsam die Probleme bespricht.

Sprecher:
Das Angebot der Mütterberatung wird zunehmend aufgegriffen, vor allem von türkischen Müttern, die bereits länger in der Bundesrepublik sind.

Dr. Matschke:
Es gibt drei verschiedene Gruppen. Solche Mütter, die noch nicht lange in Deutschland sind; die versuchen zunächst ihre Kinder mit alten Hausmitteln zu heilen, oder sie fragen Nachbarinnen und bitten sie um ihre Hilfe...

Solche, die schon etwas länger hier sind, die schon aufmerksam wurden auf z.B. hier unsere Einrichtung, die kommen hierher, lassen sich beraten, bekommen auch oft Medikamente mit oder den Rat in irgendeine Klinik zugehen, wobei sie dann von unseren Dolmetschern und unseren Sozialarbeitern begleitet werden. Und die 3. Gruppe ist die, die sich hier schon eingelebt hat, die einen Krankenschein haben, versichert sind, auch oft schon einen Hausarzt haben, die dann eben den Hausarzt oder Facharzt aufsuchen mit ihren Krankheiten.

Sprecher:
Bei den italienischen Einwanderern, die bereits am längsten hier sind, stellt Pfr. Enrico Cotelli von der Italienischen Gemeinde Frankfurt ein tiefsitzendes Mißtrauen fest.

Cotelli:
Normalerweise mißtrauen sie,- haben ein großes Misstrauen gegenüber den Ärzten, sie glauben eigentlich, selbst wenn der Arzt beruflich seine Pflicht macht, daß er sie nicht liebt. Er macht nur seine Pflicht und er betrachtet den Patient als Zahl - also als unbekannte Leute, die hierherkommen, aber hat er kein Interesse..…

...aber selbst wenn die Sprache da ist, sie bleiben mit diesem tiefen Misstrauen gegenüber den Ärzten und den Krankenhäusern hier in Frankfurt…

Die Leute wenden sich an die Mission. Und dann bitten sie um eine Begleitung zum Arzt oder zum Krankenhaus für die Übersetzung und vor allem, daß wir dann allein mit dem Arzt sprechen und dies herausbekommen, was wirklich der Arzt denkt. Sie glauben nämlich, daß der Arzt ihnen nicht alles sagt, selbst den Verwandten und Familienangehörigen nicht

Sprecher:
Die einzige türkische Frauenärztin in Frankfurt ist Frau Dr. Kayankaya. Neben ihr gibt es nur noch eine türkische Allgemeinmedizinerin.

Dr. Kayankaya:
Ich bin ja Türkin, und meine Patienten sind meistens türkische Patienten und ich bin Frauenärztin und unsere Frauen hier in Deutschland noch 60 % Analphabeten sind, und sie können natürlich nicht schnell eine fremde Sprache lernen und beherrschen und das erste Problem, wenn eine türkische Frau krank ist, ist die Sprachschwierigkeit. Dann will sie ganz gerne einen Arzt finden, der ihre eigene Sprache spricht und auch hundertprozentig verstehen kann.

Sprecher:
Eine hochschwangere Frau hat inzwischen das Ordinationszimmer betreten. Bevor Dr. Kayankaya mit der Untersuchung beginnt stellt sie einige Vorfragen.

Dr. Kayankaya:
Frau Redjili, wo wohnen Sie? (dann Frage auf türkisch)

Türkin:
Nied

Dr. Kayankaya:
Nied ist ja ziemlich weit von meiner Praxis. Warum kommen Sie von Nied nach Sachsenhausen zu meiner Praxis? (dann Frage auf türkisch)

Türkin:
(türkisch, dann übersetzt) Ich kann die deutsche Sprache nicht beherrschen, ich verstehe die deutsche Art nicht, und deswegen ist mir lieb, wenn ich zu einem türkischen Arzt gehe und türkisch sprechen kann mit dem Arzt.

Dr. Kayankaya:
(türkisch, dann übersetzt): Sie erwarten jetzt Ihr zweites Kind Wie war das mit dem ersten Kind?

Türkin:
(türkisch)

Dr. Kayankaya:
Frau B. hatte bei der ersten Schwangerschaft viele Komplikationen, besonders Blutungen. Durch die Sprachschwierigkeiten konnte sie nicht klar machen, daß sie Blutungen hatte, und dadurch hat sie eine Frühgeburt bekommen. Und jetzt in der Schwangerschaft am Anfang hatte sie auch sehr starke Blutungen und Schwierigkeiten, aber durch die türkische Sprache haben wir uns mit dem Patienten sehr gut verstanden. Wir haben jetzt diese Schwierigkeiten hinter uns und sie wird bald ihr Baby bekommen.

Sprecher:
Frau Redjili wird - so hat sie es vor - in einem Krankenhaus entbinden. Dann stellt sich unter Umständen wie bei vielen anderen Müttern die Frage nach der Versorgung der Familie. Hier schaltet sich der Sozialdienst des Krankenhauses ein. Schwester Elisabeth vom Sozialdienst des Katharinenkrankenhauses in Frankfurt erwähnt den Fall einer türkischen Familie.

Sr. Elisabeth:
Am frühen Morgen, gegen 6 Uhr wurde vom Notarzt eine junge Frau eingewiesen, die etwa 6 Wochen vorher hier entbunden hatte. Der Ehemann kam mit dem Neugeborenen mit dem Krankenwagen mit zu uns, da er zu Hause kein Hilfe hatte und auch nicht wußte, wie man ein Baby versorgt. Gegen 7:15 Uhr wurde ich hinzugezogen und gebeten, das Neugeborene unterzubringen. Den Ehemann nahm ich mit dem Baby ins Büro. Ich versorgte das Kind zunächst, indem ich eine Tragetasche aus dem Vorrat holte und machte dem Baby ein Bettchen zurecht. Somit gewann der nicht gut deutsch sprechende Türke etwas Vertrauen, bekam mit, daß wir ihm echt halfen.

Sprecher:
Wohlwollen und Vertrauen sind gerade bei Verständigungsschwierigkeiten von ausschlaggebender Bedeutung.

Sr. Elisabeth:
In der Regel spricht jeder Ausländer etwas deutsch und durch Gesten kann man sich verständigen. Bei größeren Sprachverständigungsschwierigkeiten bitte ich Mitarbeiter des Hauses, die als Landsleute die Situationen versuchen zu erklären, und wodurch auch eine Vertrauensbasis geweckt wird, so daß der betreffende Klient erkennt, daß wir ihm wohlwollen…

In schwierigen Situationen - je nachdem wie die Problematik ist und in welcher Angelegenheit die Klienten erscheinen - wenn es eilig ist, rufe ich meistens sofort ein Konsulat an und bitte, mir einen Dolmetscher kurz zur Verfügung zu stellen, so daß wir dann über's Telefon versuchen, die Situation zu klären.

Sprecher:
Wenn einmal ein Vertrauensverhältnis vorhanden ist, kommt es gegebenenfalls anderen Landsleute/ zustatten.

Sr. Elisabeth:
Ich habe jetzt nach 1 1/2 Jahren mit Freude festgestellt, daß dieser Ehemann, der vor etwa zwei Jahren mit mir Kontakt hatte, weil die Ehefrau hier stationär lag und er drei unversorgte Kleinkinder hatte, und wir hatten seinerzeit eine Frau gefunden, die die häusliche Pflege übernahm und die Kostenregelung über die Krankenkasse erwirkte, jetzt diesem Jahr mit anderen Kollegen kam und sie daraufhin wies, daß er durch uns erfahren hat, daß man diese Probleme lösen kann, sowohl über andere Landsleute eine Frau zu finden, als auch die Kostenregelung bei der Krankenkasse, da es für diese Ehemänner ein Problem ist, wenn sie zu lange am Arbeitsplatz fehlen und heute mit einer Kündigung rechnen müssen,

Sprecher:
Krank werden und den Arbeitsplatz verlieren, eine Sorge heute für Arbeitnehmer, deutsche wie ausländische. Bei einem Ausländer kommen weitere Nöte hinzu. Carlos Mateu, 26jähriger Spanier, zählt zu den Millionen, die nur dann für die Arbeit in Deutschland angeworben wurden, wenn sie kerngesund waren.

Mateu:
Ich befinde mich in der Bundesrepublik seit 1969, also fast 8 Jahre; und ich habe immer als Maurer gearbeitet, d.h. am Bau, Platten legen, als Glasbausteinleger und letztes Jahr im November habe ich Beschwerden an meinen Knien gespürt und da bin ich zum Arzt, der hat dann Rheuma festgestellt. Ich war dann bis Februar krank gewesen, arbeitsunfähig. Als mich mein Arzt wieder gesund geschrieben hat, war ich bereits gekündigt worden. Dadurch habe ich mein Arbeitsverhältnis verloren und auch, Als mich mein Vertrauensarzt untersucht hat, hat er gesagt, daß ich nicht mehr am Bau arbeiten darf....

Sprecher:
Carlos Mateu ist arbeitslos. Er geht davon aus, daß er nur noch als ausgebildete Fachkraft Arbeit finden könnte. Wenn ihm das nicht gelingt und er den Lebensunterhalt für seine Familie mit zwei kleinen Kindern nicht mehr verdienen kann, muß er damit rechnen ausgewiesen zu. werden. In Spanien stünde er vor dem Nichts.

Mateu:
Ich habe also gehört, daß ich Umschulung beantragen darf, und das habe ich bereits seit einigen Monaten gemacht. Ich habe mich auch bemüht, eine Lehrstelle zu bekommen, die habe ich auch bereits gehabt, nun aber, dadurch, daß diese Umschulung durch die LVA geleistet werden muß, und dann muß ich erst eine Kur durchführen und dann ist diese Lehrstelle verloren gegangen. Nun bin ich nach der Kur da, wo ich vor 4 Monaten angefangen habe. Das heißt, ich muß wieder eine Lehrstelle suchen, oder abwarten, daß mir die LVA eine gibt. Das wird für mich bedeuten, daß es etwa ein Jahr dauert, und so lange kann ich wegen meiner Aufenthaltserlaubnis nicht warten...

Sprecher:
Nicht überall war gleich das Verständnis für die Notwendigkeit einer Umschulung gegeben.

Mateu:
Ein Arzt hat gemeint, weil ich halt Ausländer bin, nicht, wenn ich eine Umschulung mache, das würde sehr viel Geld kosten und das Geld verloren gehen würde, wenn ich zurück nach Spanien gehe. Und man kann diese Maßnahme sparen. Ich habe aber gemeint, daß meine Gesundheit mehr wert ist, als das Geld.

Sprecher:
Sozialrechtlich sind die Ausländer gleichgestellt. Dennoch haben sie ihre besonderen Sorgen. Sie sind auch anfälliger für bestimmte Krankheiten und unfallgefährdeter.
Dazu Pfr.Cotelli:

Cotelli:
Besondere Krankheiten finde ich sind zum Beispiel Depressionen, vor allem bei alleinstehenden Männern und auch Frauen, die getrennt von den Familien leben. Vor allem Männer, die ihre Frau und Kinder in Italien haben, leiden unter einer fast ständigen Depression. Dann kommen auch die Magenschmerzen und was damit verbunden ist.

Sprecher:
Die Erfahrung der Kinderärztin. Für sie gibt es psychische Krankheiten,...

Dr. Matschke:
...die besonders bei den Kindern auftreten, die nach einigen Jahren herausgerissen werden aus ihrer normalen Umgebung und dann hier nach Deutschland kommen. Das sind Kinder, die manchmal auch hier geboren sind, die dann aber keinen Krippenplatz bekommen haben und bei den Großeltern gelebt haben, und dann mit drei Jahren, wenn sie hier in den Kindergarten kommen können und nach Deutschland kommen, verstehen sie die Sprache nicht, die Eltern arbeiten den ganzen Tag, sie sind also nur abends mit den Eltern zusammen. Diese Kinder entwickeln häufig ein Fehlverhalten:

Das sind verhaltensgestörte Kinder, die anfangen sich plötzlich die Haare auszuziehen, oder sich kratzen oder andere Kinder ernsthaft angreifen, die nicht richtig sprechen lernen, auch die Muttersprache dann wieder vergessen und die ins Bett machen, also eben einnässen.

Sprecher:
Dr. Schuckmann von der werksärztlichen Abteilung der Hoechst - AG, die im Werk Hoechst etwa 3.000 ausländische Arbeitnehmer hat, überblickt eine langjährige Entwicklung

Dr. Schuckmann:
Ja, es gibt eigentlich - wenn man das einmal nach der Medizin trennen will - zwei Besonderheiten, einmal das mehr psychische, was man etwas hochtrabend unter dem Wort de Entwurzelungssyndroms kennt, was man sehr viel einfacher einfach als Heimweh bezeichnen kann, und zum anderen spezifische, allerdings sehr wenige Krankheiten, die vorwiegend bei Mitarbeitern aus dem südlichen Mittelmeerraum in Form von bestimmten Blutbildveränderungen auftreten..

In den Anfangsjahren war natürlich die Unfallhäufigkeit deutlich höher, als bei unseren deutschen Mitarbeitern, einfach bedingt durch Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten, Wir sind dem entgegengekommen, daß wir die Unfallbelehrungen in den Betrieben dann in verschiedenen - ich glaube insgesamt sogar 5 Sprachen - abgefaßt haben, daß wir Unfallmerkblätter in verschiedenen Sprachen herausgegeben haben. Das war das, was wir tun konnten. Und wir haben natürlich von unseren Mitarbeitern immer wieder verlangt, daß sie sich der deutschen Sprache etwas mehr bemächtigen, um sich auch mit den Kollegen, über den deutschen Kollegen, über Probleme der Unfallverhütung am Arbeitsplatz besser unterhalten zu können...

Sprecher:
Krankenstand und Unfallhäufigkeit sind zwar immer noch höher als bei den Deutschen; dennoch ist im Laufe der Jahre eine spürbare Verbesserung eingetreten. Der Arbeitsmediziner berichtet von dem Bemühen, das gesundheitliche Wohlbefinden der nichtdeutschen Mitarbeiter zu fördern und die Verständigung zu erleichtern.

Dr. Schuckmann:
Es war natürlich erforderlich, als wir vor vielen Jahren sehr viele ausländische Mitarbeiter nach Deutschland geholt haben, speziell in unser Werk geholt haben, daß wir uns da etwas Gedanken machen mußten, um die andere Ernährungsform, speziell der südländischen Mitarbeiter. Wir haben dann den Küchenplan mal etwas gemeinsam durchgesehen und haben spezielle Speisen eingebaut, die den ausländischen Mitarbeitern - speziell aus dem südländischen Raum etwas mehr lagen, und haben ganz typisch deutsche Gerichte, die ihnen weniger lagen, etwas mehr herausgenommen, so daß wir jetzt eine - na, ich hätte beinahe gesagt - internationale Küche hier haben. Das ist ein Kantinenessen, was glaube ich, von den Deutschen wie von den Ausländern gleichermaßen genossen werden kann, ohne daß irgendwelche Probleme mehr auftreten…

Sprecher:
Das Verständigungsproblem gilt inzwischen auch als gelöst.

Dr. Schuckmann:
Zunächst einmal, muß dazu gesagt werden, daß die Verständigung, die anfangs, als wir größere Mengen von ausländischen Mitarbeitern zu uns bekamen, sehr viel schwieriger war, jetzt fast normal geworden ist. Das ist einmal darauf zurückzuführen auf die Tatsache, daß natürlich unsere ausländischen Mitarbeiter sehr viel besser deutsch gelernt haben in den vergangen Jahren und zum anderen auch, daß wir uns - aus der Not eine Tugend gemacht haben - und einige meiner Kollegen die Hauptsprachen italienisch und spanisch soweit gelernt haben, daß wir uns wenigstens über die medizinischen Begriffe mit unseren ausländischen Patienten einigen konnten…

Ich habe mich bemüht, etwas spanisch und italienisch zu sprechen und habe das auch etwas vervollkommnet, so daß ich heute mit meinen Patienten aus Spanien mich soweit verständigen kann, daß da an sich keine Probleme mehr entstehen…

Sprecher:
Verbesserungen auf der ganzen Linie also. Je besser die ausländische Bevölkerung integriert ist, umso günstiger wird für sie die medizinische Versorgung. Sicher ist es aber noch ein gut Stück bis dahin, was Schwester Elisabeth aus der Sicht des Sozialdienstes bereits jetzt glaubt feststellen zu können.

Sr. Elisabeth:
Es gibt keine spezifischen Probleme für Ausländer, die es z.B. bei deutschen Patienten nicht gäbe. Versorgung von Kleinkindern und unversorgten älteren Angehörigen gibt es sowohl bei Deutschen als auch bei Ausländern; auch sonstige Probleme, die sich durch die Krankheit ergeben, oder die Krankheit verursachen.