Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1994
Ansprache beim Requiem für


Ansprache beim Requiem für

HANS SEIDENATHER

am 10. September 1994
im Dom zu Limburg

DIE ARMEN-LOBBY BEIM WELTGERICHT

Jak 1,17-27 und Mt 25,31-40

Ein moderner Staat zeichnet sich aus durch die Gewaltenteilung:
Es handelt sich um die gesetzgeberische Gewalt,
die Regierungsgewalt und
die eigenständige dritte Gewalt, die Gerichtsbarkeit.

Beim Weltgericht fallen diese drei Gewalten zusammen.
Christus ist gleichzeitig Richter,
Gesetzgeber und
globaler Regent.
Kann es da für die arme Seele ein faires Verfahren geben?

Vielleicht müßte der dogmatische Traktat über die Dreifaltigkeit fortgeschrieben werden, sodaß die Teilung der Gewalten als Urbild menschlicher Gemeinschaft in der Dreieinigkeit - die eben kein monarchischer Gott ist - zu orten wäre:
So hätte die erste Person die Gesetzgebungsgewalt;
der zweiten käme die Herrschaft über Himmel und Erde zu;
die dritte schließlich wäre die Instanz, die Recht spricht.

Noch etwas anderes im Endzeitgericht muß dem heutigen Menschen fragwürdig erscheinen:
Christus ist der Richter, der ohne Anwalt entscheidet!

"Quid sum miser tunc dicturus? Quem patronum rogaturus?" So fragt die zitternde Seele im Dies irae."Weh, was werd` ich Armer sagen? Welchen Anwalt mir erfragen?"

Müßte nicht Christus unser Anwalt vor dem Vater sein, der nach dem Hebräerbrief Kapitel 10 in den Himmel eingegangen ist, um vor Gottes Angesicht unsere Sache zu führen? Hat Christus uns nicht vor der Aufnahme in den Himmel seinen Geist als Anwalt versprochen? Wo also ist im Gericht unser Anwalt?

Ich meine, wenn wir uns dem Zentrum der Aussage dieses apokalyptischen Bibeltextes nähern, es wären die Armen! Die Hungrigen, Nackten, Obdach- und Heimatlosen, die Kranken und Gefangenen, die Fremden und Flüchtlinge, die Gebrechlichen und geistig Behinderten. In der Umwertung, die im Reiche Gottes vorgenommen wird, sind sie mit endzeitlicher Kompetenz und Macht ausgestattet, sind sie vor dem Richterstuhl der Ewigkeit die Anwaltschaft der armen Seele.

Wohl dem, der diese Lobby aufzuweisen hat, der die Wolke von Zeugen besitzt, die auf karitatives Tun verweisen und gegenüber den Armseligkeiten jeder armen Seele das Buch ihrer vielleicht alltäglichen Großtaten aufschlagen.

Hans Seidenather dürfte sich in der Begleitung einer unübersehbaren Schar der Armen wähnen. Sein Lebensinhalt war, und so hat er es auch immer verstanden, der Dienst an den Armen, die Caritas. Dabei war er sich sogar einigermaßen sicher, diese Aufgabe im Sinne des Evangeliums und der Kirche erfüllt zu haben. Er lebte die letzten Jahre in dem Bewußtsein - und dies ohne Überheblichkeit oder falschen Stolz - ein gutes, dem Bistum, dem Caritasverband, der Diakonie, nicht zuletzt auch dem Siedlungswerk, damit also den Armen, dienliches Werk getan zu haben.

Alle Ehrungen, die im aus Kirche und Gesellschaft zuteil geworden sind, hat er ebenso dankbar wie selbstverständlich entgegengenommen, sah sich durch sie in seiner Selbsteinschätzung bestätigt und war seinerseits seinem Gott und dem Bischof dankbar für all die Aufgaben, die ihm im Laufe seines Lebens übertragen worden waren. Dabei dürfte kaum ein Mensch von seinen Vorgesetzten so optimal und seinen Talenten entsprechend eingesetzt worden sein wie Hans Seidenather. So darf man ihn, was seine Aufbauleistungen angeht, als den Baumeister des Bistums Limburg in der Nachkriegsära bezeichnen.

Wird der Weltenrichter dies auch so sehen?
Wird die Lobby der Armen dies entsprechend würdigen?
Die Armen sehen nur die Hand und das Gesicht des Menschen, der sich ihnen zuneigt. Für diesen werden sie gern vor dem Richterstuhl Christi Fürsprecher sein. Aber wie sollen sie für jemanden eintreten, der Entscheidendes für sie tut, sogar sein ganzes Leben lang für sie tätig ist, aber für sie kein Gesicht hat?

Vielleicht haben ihn ja einige der Armen als kirchlichen Funktionär in den höheren Etagen der Kirchenverwaltung und der karitativen Organisationen gesehen, wenn er Kindergärten, Einrichtungen des Caritasverbandes oder Neubauten des Siedlungswerkes eingeweiht hat. Gesicht und Hände hatte Hans Seidenather weit eher für Konferenzteilnehmer, Domkapitel und Synodalräte. Kann es aber eine christliche Existenz geben, die sich nur auf den oberen Ebenen von Institutionen verwirklicht? Christliches Leben ist seiner Natur nach gemeindlich und unmittelbar. Dabei sind in der heutigen Zeit zwischengeschaltete Institutionen im Sinne einer wirksamen Hilfe absolut notwendig. Es bedarf auch des Dienstes anspruchsvoller Verwaltungen.

Unmittelbar diente Hans Seidenather den Armen als Gefängnispfarrer, zum Tode Verurteilte auf ihrem letzten Gang begleitend, oder als Kaplan in Frankfurt und Lorch. Nach seiner Pensionierung hat Hans Seidenather die biblischen Kriterien des Weltgerichts um eine Kategorie erweitert: Ich war ein alter Priester und du hast mich besucht!

Ist es die Begrenztheit eines biblischen Bildes, wenn Besuch und Feier von Gottesdiensten seitens des Weltenrichters keinerlei Würdigung erfahren? Ich denke, es ist kein Mangel im Aufbau dieser eindrucksvollen Szene, sondern es gehört zu der von Christus radikalisierten Kritik der Propheten am Gottesdienst und zwar dann, wenn dieser seinen Bezug zum humanen Tun verloren hat, dieses sogar rituell zu ersetzen versucht, oder doch zumindest in der Gefahr dazu ist.

Dies unterstreicht die Stelle des Jakobusbriefes, wo von dem Dienst vor Gott die Rede ist, vom reinen und makellosen Gottesdienst, von der "immaculata religio", wie es in der Vulgata-Übersetzung heißt. Nach Jakobus besteht die religio immaculata darin, für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind.

Der Gottesdienst hat für Hans Seidenather eine entscheidende Rolle gespielt. Die Nähe zu den Armen, sie war da bei seinen Gottesdiensten im Hebbelstift (Limburg) und im Haus Maria-Elisabeth (Hofheim), in Einrichtungen für ältere Menschen, bei den Schwestern vom Guten Hirten (Hofheim) und den Mädchen, die als gefährdet galten und im Vinzenzhaus (Hofheim), wo Kinder aus krisenbedrängten Familien betreut wurden; das waren alles Orte, in denen die Caritas Christi Menschen besonders nahe zu sein versucht. Der Gottesdienst hatte hier, vielleicht unmittelbarer als manchmal in den Gemeinden, die Ausrichtung, den Dienst der Liebe zu bestärken und zu entfalten. Ich würde dies der Lobby der Armen gern soufflieren und ich glaube, sie würde es akzeptieren.

Noch etwas anderes möchte ich hinzufügen dürfen:
Ich habe Hans Seidenather kennengelernt, als er so alt war, wie ich jetzt bin. Wir haben mehr als einen Sack Salz zusammen gegessen, mehr als ein Faß Wein geleert, unsere Gespräche hätten Bände füllen können. Wir haben zusammen auch mehr als ein paar Wanderschuhe verschlissen.

Im übertragenen Sinn ist Hans Seidenather mit mir durch dick und dünn gegangen, wir waren wie zwei "Tippelbrüder" vor dem Herrn. Er hat mich in meiner Arbeit für die Fremden und Flüchtlinge rückhaltlos und finanziell aus seiner Tasche auf das großzügigste unterstützt. So konnte ich Geschenke und Süßigkeiten für die Kinder kaufen, Honorare für Rechtsanwälte begleichen, die heimliche Rückkehr eines ausgewiesenen Familienvaters unterstützen oder auch einmal eine zu hohe Telefonrechnung übernehmen.

Besten Rat in schwieriger Lage erhielt ich von ihm, dem "terrible simplificateur", dem herrlich-schrecklichen Vereinfacher. Er konnte die verwickeltsten Angelegenheiten auf den Punkt bringen, jeder schier verfahrenen Situation noch positive Seiten abgewinnen.

Manchmal hatte ich den Eindruck, Hans Seidenather würde nicht richtig eingeschätzt, etwas kleiner geraten als andere, mit seinem Mecki-Haarschnitt und seiner spröden Sprache; weil er Gefühle nicht äußern konnte, als streng und unnahbar erschien. Ich habe ihn als einen ungewöhnlich guten Menschen erlebt, der nie abfällig über andere gesprochen hat, den ich zu keiner Stunde wütend oder ausfällig erlebt habe, der mich bei allzu strenger Beurteilung und harter Entscheidung zu mehr Menschlichkeit anhielt.

Nach all dem Gesagten, dem noch zu Sagenden und dem Ungesagten glaube ich, Hans Seidenather steht nicht allein dar vor dem Weltenrichter!