Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1971

Schriftauslegung und Predigtgedanken
1 Kor 3, 16-23
7. Sonntag im Jahreskreis (A)
veröffentlicht in:
Heinrich Kahlefeld (Hrsg.) in Verbindung mit Otto Knoch,
Die Episteln und Evangelien der Sonn- und Feiertage,
Auslegung und Verkündigung 15,
Die Episteln VII, 2.-17. Sonntag im Jahreskreis,
Lesejahr A, Frankfurt/Stuttgart 1971, S.121-123

INHALT
Die Gemeinde ist der Tempel Gottes. Ihre Mißachtung gleicht einer Tempelschändung.

1. Korintherbrief, 3, 16-23

16 Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?
17 Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.
18 Keiner täusche sich selbst. Wenn einer unter euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er töricht, um weise zu werden.
19 Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. In der Schrift steht nämlich: Er fängt die Weisen in ihrer eigenen List.
20 Und an einer anderen Stelle: Der Herr kennt die Gedanken der Weisen; er weiß, sie sind nichtig.
21 Daher soll sich niemand eines Menschen rühmen. Denn alles gehört euch;
22 Paulus, Apollos, Kephas, Welt, Leben, Tod, Gegenwart und Zukunft: alles gehört euch;
23 ihr aber gehört Christus und Christus gehört Gott.

I

(1) Gehen wir in Gedanken und Empfindungen ganz auf den Satz ein: »Wer immer Gottes Tempel verdirbt, den wird Gott verderben! Denn Gottes Tempel ist heilig« (v17). Dabei soll der Zusammenhang außer Betracht bleiben, in den dieser Satz von Paulus gestellt ist. So kann das Bild, bevor wir seine Übertragung auf die Gemeinde reflektieren, am ehesten seine emotionale Wirkung entfalten. Hinter diesem Satz steht die bei allen Religionen bekannte Vorstellung von der Unantastbarkeit des Tempels. Der Tempel hatte Anteil an der Unantastbarkeit des Gottes, der in ihm wohnend geglaubt wurde. Jeder Angriff auf das Bauwerk war gleichzeitig ein Angriff auf die Gottheit. Sollte es ein Gottloser wagen, einen solchen Frevel zu begehen, verletzte er göttliches Hoheitsgebiet. Der Gläubige nahm an, daß Gott sich zu verteidigen wußte, indem er den Untäter bestrafte. Der Tod erschien als die gemäße Strafe für groben Tempelfrevel. Trat er nicht auf der Stelle ein, so mußte er den Frevler bei nächster Gelegenheit ereilen.

Die Angst, Gott zu nahe zu treten, bestand für den frommen Menschen nicht nur bei einer direkten Tempelschändung. Schon die Möglichkeit eines ungebührlichen Benehmens den Göttern gegenüber ließ den Frommen der alten Welt erzittern. Überließ er es nicht gar ausschließlich dem Priester, den Tempel zu betreten, wußte er sich durch mancherlei Maßnahmen vor einer drohenden Strafe zu schützen.

(2) Wußte Paulus die Gemeinde von Korinth nicht gebührend zu erschrecken, wenn er die Strafe für Tempelschändung auf das Fehlverhalten gegenüber der Gemeinde übertrug? Er durfte davon ausgehen, daß die Christen die Strenge des gebrauchten Bildes nachvollziehen konnten. Wenn sie außerdern - und darauf kam es Paulus an - auch die Strenge, die in der Übertragung enthalten war, verstanden, mußten sie eine hohe Auffassung von Gemeinde haben. Welchen Respekt müßten wir vor der Gemeinde haben, sobald uns das Bild von der Gemeinde als dem Tempel Gottes aufgegangen ist!

II

(1) Die Christen haben im Laufe der Geschichte ein ausgeprägteres Verhältnis zum Kirchenbau als zur lebendigen Gemeinde entwickelt. Daher werden sie leichter das Bild von dem Tempel, der nicht verdorben werden darf, verstehen als die Übertragung dieses Bildes auf die christliche Versammlung. Der Beweisgang der anstehenden Lesung, insofern er von dem Bild des Tempels herkommt, wird daher nicht einfach verständlich sein. Der Erfahrung nach reagieren Christen auf eine wirkliche oder vermeintliche Kirchenschändung mit beachtlicher Schärfe. Außerdem kennen viele die Angst vor einem sogenannten ungebührlichen Betragen in der Kirche, auch wenn dieses sich auf recht harmlose Weise äußert. Das Bauwerk wird selbst vielfach wie ein Tempel bewertet, dessen Unversehrtheit und Würde Gott verteidigen wird.

(2) Daß sich in der Kirche Gemeinde versammelt, ist zwar ständige und unmittelbare Erfahrung, gibt aber im Bewußtsein der Gläubigen dem Raum nicht seine besondere Qualifikation. Das hängt damit zusammen, daß der Gemeinde bei weitem nicht die Bedeutung und Würde zugemessen wird, die ihr eigentlich zukommt.

(3) Soll der wichtige Gedanke von der Gemeinde als dem Tempel Gottes deutlich werden, so setzt das ein anderes Verständnis von Gemeinde und des von ihr benutzten Raumes voraus. Man könnte es auf die Formel bringen: Nicht der Raum bestimmt, was Gemeinde ist und tut, sondern die Gemeinde bestimmt, welche Funktion der Raum hat. Ob diese Einsicht sich aber wirklich durchsetzt, hängt davon ab, ob die Gemeinden zu dem Selbstbewußtsein und -verständnis finden, das ihnen als neutestamentliche Heilsgemeinschaft zukommt.

III

(1) »Ihr seid Gottes Tempel!« »Der Geist Gottes wohnt in euch!« (v 16). Das sind Aussagen, die in ihrer Tragweite leider sehr unterschätzt werden. Wäre dein nicht so, dann sähe es in unseren Gemeinden völlig anders aus. Wenn Paulus so spricht, zeigt er einen entscheidenden Unterschied zwischen der alten Zeit und der neuen auf, zwischen Altem und Neuem Bund. Er betrifft die Erfahrung Gottes und die Bewertung des Mitmenschen und der Gemeinschaft. »Gottes Tempel ist heilig« fährt Paulus fort, »und der seid ihr!« (v 17).

(2) Heiligkeit wird im Alten Bund im strengen Sinne nur von Gott ausgesagt. In dieser Heiligkeit ist er zwar seinem Volke immer nahe, dennoch wird er stärker als der Unnahbare und Ferne empfunden. Die von dem Menschen geforderte Haltung kommt in den Worten zum Ausdruck, die an Mose gerichtet sind: »Ziehe deine Schuhe von den Füßen, denn der Platz, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« (Ex 3,5). Gottes Unnahbarkeit wird zum sinnenfälligen Erleben. Dabei darf Mose als menschlicher Mittler immerhin der Abstand gebietenden Hoheit Gottes gegenübertreten. Das Volk selbst aber bleibt in der Ferne und wird in seiner Gemeinschaft bestimmt von der Furcht vor dem heiligen Gott.

(3) Mit Jesus Christus tritt der Mensch in ein neues Verhältnis zu Gott und seiner Heiligkeit. Das AT berichtet immer wieder, daß sich der Mensch, der der Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes begegnet, schuldig fühlt. Wenn dies auch in der Begegnung mit Jesus eintritt, der diese Schuld vergibt, steht er auf der Stufe des »Heiligen Israels«. Die Evangelien sehen Jesus umgeben von der Hoheit göttlichen Glanzes. Ihre besondere Aussage liegt darin, daß sich das Erlebnis der »Herrlichkeit« Gottes auf die Person Jesu konzentriert. Die Menschen werden von ihm unwiderstehlich angezogen, wobei ein ehrfürchtiger Abstand gewahrt bleibt.

Es überwiegt aber die Anziehung. Johannes sagt, daß die Menschen die Herrlichkeit Gottes auf dem Antlitz Jesu aufleuchten sahen, nicht als vernichtenden Glanz, vielmehr als Zeichen der Zuwendung zum Menschen, als Liebe. In dieser Liebe hat die Furcht keinen Raum mehr.

(4) Die Liebesherrlichkeit Gottes leuchtet aber nicht nur auf dem Antlitz Jesu auf, sondern auch auf dem Antlitz des Nächsten. Die ersten Christen haben sich als »Heilige« bezeichnet, weil die Herrlichkeit Gottes durch seinen Geist in ihnen gegenwärtig war. Sie waren Tempel des Heiligen Geistes. Die Menschen selbst sind einander Mittler zu dem unanschaulichen Gott hin. »Die innerste Tiefe eines jeden einzelnen ist nunmehr jener ausgesonderte Kultort, an welchem der Vater >im Geist und in der Wahrheit< angebetet und verherrlicht wird« (Heribert Mühlen). Das, was in den Religionen die Tempel für das Wohnen Gottes bedeuten sollten, das ist auf die Gemeinde übergegangen. Gott wohnt nicht in Häusern aus Stein, sondern in der Gemeinde, die im Geiste Christi miteinander umgeht. Die Mißachtung der Gemeinde ist Tempelschändung.