Herbert Leuninger

ARCHIV KIRCHE
1989

Süddeutscher Rundfunk
Sendung vom 4. Februar 1989
Sendereihe: CHRISTEN ZUM ALLTAG
Redaktion: Hildegard Lüning
KEINE ANGST VOR DER KULTUR ANDERER MENSCHEN

In Berlin gibt es viele Menschen, die haben Angst vor den Fremden. Sie haben Angst vor Überfremdung, Angst vor einer Stadt mit vielerlei Kultur. Daher wählen sie eine Partei, die rechtsextrem ist. Ganz anders Oberbürgermeister Rommel. Er glaubt, daß die Zukunft in Europa den multinationalen Großstädten gehört. Eine multinationale Stadt, das ist Stuttgart z.B. bereits jetzt. Menschen aus den verschiedensten Nationen leben hier seit Jahrzehnten friedlich zusammen. Für Rommel ist es nicht wichtig, daß die Menschen, die in einer Stadt leben, alle von den gleichen Ahnen abstammen oder die gleiche Religion und Konfession haben. Kulturelle Vielfalt erhöht für ihn die Qualität einer Stadt. Dabei gibt der Oberbürgermeister aber zu, daß er vor 15 Jahren noch nicht so gedacht hat.

Die Leute, die heute ein deutsches Deutschland fordern, wissen nicht, daß es ein solches längst nicht mehr gibt. Blicken wir nur kurz in die Geschichte. Der Preußenkönig Friedrich der Große konnte Deutsch nur radebrechen. Er dichtete auf Französisch. Am Ende seiner Herrschaft war er König eines Landes, in dem mehr Polen als Deutsche lebten. Dem jungen Goethe, dem großen deutschen Dichter, stand er fremd und verständnislos gegenüber.

Was ist z.B. mit den Bajuwaren, den Bayern? Dort gebärdet man sich in diesen Tagen ja wieder besonders national. Im sechsten Jahrhundert waren sie urplötzlich da, als Findelkinder der Völkerwanderung, als Söhne und Töchter von Alemannen, Langobarden, Ostgoten, Thüringern und Romanen, so die allerneueste Geschichtsforschung. Wenn sie eines von ihren Vorfahren geerbt haben, dann die Gabe der Stammesmischung!

Das homogene das lupenrein deutsche Deutschland hat es nicht gegeben und gibt es nicht. Unsere Kultur kommt heute vor allem aus den Vereinigten Staaten, von den Blumenkindern etwa bis hin zu Rambo. Schätzungsweise 30000 englische Wörter sind in unsere Sprache eingegangen. Um alle Titel von Filmen zu verstehen, die heute in unseren Großstädten anlaufen, muß man wenigstens zwei Jahre Englisch gelernt haben. Wieviele Wörter außer "Kebab" sind dagegen aus der türkischen Sprache ins Deutsche übernommen worden? Da stellt sich doch die Frage, wer wen überfremdet, völlig anders.

Stuttgart, Frankfurt oder Berlin wären ohne Ausländer längst nur noch Geisterstädte. Seit Jahrhunderten leben diese Städte von dem Zuzug nicht nur aus ganz Deutschland, sondern aus Europa. Und jetzt sind sie lebendige Metropolen, weil Menschen aus der ganzen Welt in ihnen wohnen und arbeiten.

Die Menschen aus den verschiedenen Ländern bringen nicht nur ihren Willen zur Mitarbeit, ihre ganze Hoffnung und ihre Freude mit, sondern auch den Reichtum ihrer Kultur. Das muß man selbst erleben durch gute Freundschaft und Nachbarschaft. Sie kommen aus den Kulturen Afrikas, Asiens oder auch des Mittelmeerraums. Und wer sich näher auf diese Menschen eingelassen hat, spürt, daß vieles bei diesen Menschen herzlicher, intensiver, wärmer und aussagefähiger ist, als das, was wir aus unserer Kultur kennen. Menschen aus vielen Kulturen, das ist ein Reichtum, sie sind eine Chance für mehr Menschlichkeit in unserer Gesellschaft.

Im Mittelalter waren manche Städte stolz darauf, als "neues Jerusalem" bezeichnet zu werden. Das war ein Ehrentitel aus der Bibel. Er erinnerte daran, daß sich am Ende der Tage das zerstreute Volk Israel und alle anderen Völker in Jerusalem, der Stadt Gottes versammeln würden. Sie bringen ihre Kinder und ihre kulturellen Schätze mit. Es entsteht eine neue Gesellschaft, eine Stadt des Friedens.


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