Herbert Leuninger ARCHIV KIRCHE
1988

Theologisch-sozialethische Überlegungen zur Reform des Ausländerrechts



 

INHALT

Moral und Interessen

Wenn Moral und Interessen in der Politik miteinander konkurrieren, siegen gemeinhin die Interessen. Das entspricht der Erfahrung. Allerdings ist mit dieser nüchternen Einschätzung und ihrer weltanschaulichen, etwa marxistischen Unterfütterung eine Gefahr verbunden: Die Macht der Moral wird unterschätzt und bloß moralische Argumente abgewertet. Dabei kommt keine Politik und keine Durchsetzung von Interessen ohne Moral aus, ohne ihre Moral, so will ich zugestehen. Nur ist es von entscheidender Bedeutung, ob die, die ihre Politik und ihre Interessen, durchsetzen, dies auch als moralisch auszugeben verstehen. Wenn ihnen dies gelingt, sei es durch die Verschleierung der wahren Absichten, sei es durch eine Scheinmoral oder aber auch durch die tatsächliche Übereinstimmung der moralischen Vorstellungen mit dem politischen Handeln, ist die Herrschaft gesichert. Wo Politik und Moral nicht mehr auf einen Reim gebracht werden können, gerät die Politik in eine Legitimationskrise. Sie kann dadurch abgewehrt werden, daß die Kritiker mundtot oder tot gemacht werden, oder aber auch dadurch, daß eine bessere Legitimation gesucht wird. Dazu werden normalerweise Hoftheologen gehalten. Sie sind noch wichtiger als die Astrologen und Traumdeuter. Nicht auszuschließen ist auch eine reformerische oder revolutionäre Wende aufgrund neuer, stärkerer Interessen und besserer Rechtfertigungsmuster.

Wem es gelingt, einer Regierung die moralische Legitimation zu entziehen, gefährdet ihren Bestand nachhaltiger als der, der nur andere Interessen vertritt.

Gesellschaftlicher Konsens

Mein letzter Auftritt in (der Evangelischen Akademie) Mühlheim liegt 12 Jahre zurück (16. Oktober 1976). Damals ging es um den Aufbau eines bundesweiten Kommunikationsnetzes im Bereich der Arbeitsmigration. Einleitend verwies ich darauf, daß die Öffentlichkeit mit der größten Gelassenheit, ja mit augenscheinlicher Erleichterung auf die Information der Bundesanstalt für Arbeit vom 9. September 1976 reagiert hatte, daß sich die Zahl der ausländischen Beschäftigten seit September 1973 um 662 400 vermindert habe. 660 000 Arbeiter verloren ihre Arbeit, wurden ganz gezielt vom Arbeitsmarkt verdrängt und dieser unerhörte Vorgang wurde als arbeitsmarktpolitischer Erfolg gehandelt. Damals bestand ein gesellschaftlicher Konsens, der von den Arbeitgebern über die Gewerkschaften bis zu den Kirchen reichte, daß es sich hierbei um ein normales Risiko der angeworbenen Arbeiter handelte und nicht als unmoralische Politik zu werten sei. Dieser gesellschaftliche Konsens reichte an den Anfang der Anwerbung zurück, als es darum ging, Menschen unter den Vorzeichen eines konjunkturpuffernden Einsatzes in die Bundesrepublik zu holen. Dabei dürfte der Begriff „Gastarbeiter" eine der geglücktesten Wortschöpfungen im Sinne moralischer Verschleierung gewesen sein. Es war eine wohlmeinend klingende, euphemistische Benennung von Menschen, denen die Gnade eines Arbeitsplatzes, nicht aber das Recht darauf, eingeräumt wurde. Erst sehr spät wurde erkannt, daß, wer Menschen so einsetzt und wer dies akzeptiert, keine Gegenargumente mehr besitzt gegen die „Selbstverständlichkeit" einer millionenfachen Arbeitslosigkeit, auch die Kraft verliert, gegen sie erfolgreich anzugehen.

Ich bezeichne mittlerweile die Anwerbung unter den Vorzeichen einer Selektion der Brauchbarsten als eine Verweigerung des Rechts auf Arbeit und Einwanderung, als eine nun über Jahrzehnte damit einhergehende Deklassierung von Arbeitern und ihren Familien als den großen Sündenfall der Bundesrepublik mit unerhörten negativen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen und auf die ganze Gesellschaft. Ich spreche im Nachhinein und zu spät der Bundesrepublik die moralische Qualifikation und das moralische Recht ab, ohne weitergehende Gleichberechtigung - die von den Gewerkschaften erreichte sozial- und arbeitsrechtliche reicht nicht aus - Millionen Menschen in die Bundesrepublik zu holen.

Was bedeutet dies für die Reform des Ausländerrechts? Zuerst ein Schuldeingeständnis, für Strukturen der Sünde verantwortlich zu sein, dann eine tiefreichende Bekehrung der Menschen, der Politiker, der Gesellschaft und die entsprechende Veränderung der Strukturen und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß das, was der nichtdeutschen Arbeitnehmerbevölkerung widerfahren ist und in Zukunft widerfährt, ihr stellvertretend, vorausnehmend und exemplarisch widerfahren ist und in Zukunft widerfährt. Reform des Ausländerrechts ist ein Akt der Wiedergutmachung für eine Schuld, die wir, und nicht ein früheres oder fremdes Regime, auf uns geladen haben. Reform des Ausländerrechts heißt umfassend Remedur zu schaffen und nicht nur an einer Stelle zu verbessern, um an anderer Stelle um so schärfer zuzulangen.

Der Nationalstaat

Zu den Strukturen der Sünde zähle ich einen überholten Nationalstaatsbegriff, wie er in dem Entwurf aus dem Innenministerium noch einmal fröhlich Urständ feiert: Ich zitiere den besonders charakteristischen Passus: „Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang Ausländern der dauernde Aufenthalt in der Bundesrepublik ermöglicht werden soll, hängt überdies nicht allein von den faktischen Möglichkeiten einer dauerhaften Integration von Ausländern ab. Es geht im Kern nicht um ein ökonomisches Problem, sondern um ein gesellschaftliches Problem und die Frage des Selbstverständnisses der Bundesrepublik als eines deutschen Staates. Eine fortlaufende, nur von der jeweiligen Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktlage abhängige Zuwanderung von Ausländern würde die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend verändern. Sie bedeutete den Verzicht auf die Homogenität der Gesellschaft, die im Wesentlichen durch die Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestimmt wird. Die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur verlören ihre einigende und prägende Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich nach und nach zu einem multinationalen und multikulturellen Gemeinwesen entwickeln, das auf Dauer mit den entsprechenden Minderheitenproblemen belastet wäre." (S.23)

Die Analyse des Entwurfs von Eberhard de Haan vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt schließt mit der Einschätzung, die vorliegenden Entwürfe ließen eine neue Ausländerpolitik befürchten, nämlich eine Politik der Selbstisolation.

Die Diskussion um ein neues Ausländergesetz bräuchte eigentlich nicht mehr geführt zu werden. Die Argumente dafür und dagegen sind bereits vor 75 Jahren ausgetauscht worden. Es geht heute nur noch darum, sich wie damals für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Ich stelle diese Behauptung auf, nachdem mir (durch ein Referat des Bielefelder Wissenschaftlers Lutz Hoffmann) Auszüge der Reichstagsdebatte von 1913 zugänglich wurden. Damals ging es um ein Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, das heute noch geltendes Einbürgerungsrecht der Bundesrepublik ist. Das Gesetz kam unter kaiserlichem Druck zustande. Nur die Sozialdemokraten verweigertem am Schluß der Auseinandersetzung ihre Zustimmung. Sie verbanden damit die Warnung, man würde da ein Gesetz machen, das in bestimmten Dingen um Deutschland herum eine Mauer ziehe.

Zum Regierungsentwurf, der mittels der Staatsangehörigkeit eine ethnisch-biologisch verstandene Volksgemeinschaft festschreiben wollte, hatte die Sozialdemokratie einen entscheidenden Abänderungsvorschlag gemacht. Danach sollte einem Ausländer ein Einbürgerungsanspruch nach zweijähriger Niederlassung eingeräumt werden.

Die Begründung des Antrags klingt sehr modern und könnte aus einem Dokument der Europäischen Gemeinschaft stammen: Die moderne Entwicklung des Lebens der Kulturnationen, die zunehmende Annäherung und gegenseitige Durchdringung der Nationen verlange eine solche Konsequenz. Der moderne Wirtschaftsverkehr und der Verkehr von Menschen sprenge die engen nationalen Grenzen. Immer mehr Lebensbereiche würden in die Internationalität hineingezogen. Die Wanderungsbewegungen führten dazu, daß sich immer mehr Ausländer im Inland niederlassen würden. Die geistige Atmosphäre unseres Gemeinwesens mache den, der sie so und so lange eingeatmet habe, zum Bürger. Die Sozialdemokratie hatte damals - ich wünschte, man erinnerte sich bei den diesjährigen Jubiläumsfeiern deutlicher daran - ein Staatsverständnis, das den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts weit hinter sich ließ, wenn in der Debatte formuliert wird, ein Staat sei heute nichts anderes als eine Gemeinschaft derer, die sich zu gemeinschaftlicher Arbeit verbunden hätten. Aus dem Geist der internationalen Solidarität heraus hatten die Sozialdemokraten die Hoffnung, die Souveränität in dem engherzigen, buchstäblichen, alten Sinn werde mit der Zeit in die Internationalität übergehen. Das war vor allem gegen das Reichsamt des Innern gesprochen, das ein Recht auf Aufnahme als eine Abdankung des Staates und eine Niederlegung der Souveränität bezeichnet hatte.

In der Debatte war es überflüssig, daß die Rechte ihre ausländerabwehrende Einstellung artikulierte. Das besorgte weitgehend das Zentrum für sie. Sein Sprecher begrüßte, daß einwandfreie, moralisch und wirtschaftlich tüchtige Leute, die durch Intelligenz oder Vermögen hervorragen, in Deutschland eingebürgert werden, weil das einen Gewinn für unser Vaterland bedeuten würde. Er wandte sich aber gegen eine massenweise Naturalisation galizischer Hausierer und Tausender von mittellosen Landarbeitern, die zu Erntearbeiten nach dem Osten herüberkommen. Würde der sozialdemokratische Antrag angenommen, könnten die Arbeitgeber aus dem fernsten Osten die chinesischen Kulis geradezu haufenweise nach Deutschland schleppen.

Man muß sich fragen, was für ein christliches Menschenbild das Zentrum hatte, um solche diskriminierenden und nationalistischen Äußerungen zu rechtfertigen. Man könnte ihm höchstens zugute halten, daß Rom, an dem sich das Zentrum orientierte, damals noch nicht die klaren, migrationsfreundlichen Erklärungen abgegeben hatte, wie wir sie aus den letzten Jahren und Jahrzehnten kennen. Die sind teilweise so weitreichend, daß es konservative, christliche Politiker äußerst irritieren muß. Nur nebenbei gesagt verdanken wir es letztlich Rom, daß sich die deutschen Bischöfe in der Frage der Familienzusammenführung so eindeutig und fest gegen die offizielle Politik vor und nach der Wende gestellt haben.

Recht auf Einwanderung

Die wichtigste sozial-ethische Forderung, die im Zusammenhang mit den weltweiten Migrationszwängen und -bewegungen erhoben werden müßte, ist die nach dem Recht auf Einwanderung. Hier stoßen wir aber nicht nur national, sondern gerade auch international auf eine Renaissance des Nationalstaatsgedankens. Er wird sogar unter die Hauptursachen für die Entstehung der Flüchtlingsbewegungen gerechnet.

Völkerrechtlich gibt es das Recht auf Auswanderung, vor allem noch einmal kodifiziert in der KSZE-Schlußakte von Helsinki. Mit diesem Recht auf Auswanderung ist aber kein Recht auf Einwanderung in irgendeinen anderen Staat verbunden. Dies stellt ein Defizit dar auf dem Weg der Ausweitung der Menschenrechte oder, überindividuell gesagt, auf dem Weg zur Weltgesellschaft und einer damit verbundenen Freizügigkeit.

Ein spezifisches Recht, in ein anderes Land zu gehen, wird im Völkerrecht nur dem Flüchtling zugestanden, wobei es sich nicht um ein Recht auf Einwanderung handelt. Die Genfer Konvention stellt mehr darauf ab, daß ein ankommender Flüchtling nicht in sein Heimatland zurückgeschoben wird, als daß ihm ein individuelles Recht auf Einwanderung eingeräumt wird. Ein solches individuelles, sogar einklagbares Recht auf Einwanderung hat Artikel 16 GG für den politischen Flüchtling geschaffen. Eine bestimmte Form grenzüberschreitender Freizügigkeit haben wir in der Europäischen Gemeinschaft, die dieses Privileg an das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes und an die Zugehörigkeit zu einem der Mitgliedstaaten der EG knüpft. Auch hier gibt es allerdings die Tendenz, die Freizügigkeit zu einem Niederlassungsrecht auszuformen und dabei die Arbeitsmigranten und ihre Familien aus sogenannten Drittländern einzubeziehen. Diese sich in einem dynamischen Prozeß weiterentwickelnde Freizügigkeit ist vielleicht eines der wichtigsten Modelle auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft, wenn ich davon absehe, daß dies alles unter dem Vorbehalt eines voll funktionierenden Arbeitsmarktes steht. Noch stärker konterkariert wird dieses Modell aber durch die eurozentristischen Vorstellungen der Abschottung nicht nur vor der Türkei, sondern vor allem vor Menschen der Dritten Welt und dies noch einmal speziell vor den Flüchtlingen.

In der Lehre der Katholischen Kirche gibt es - in der Kirche und Theologie der Bundesrepublik kaum wahrgenommen - eine Entwicklung auf eine Art Freizügigkeitsrecht im Sinne eines humanitären Anspruchs nicht nur auf Aussondern auch auf Einwanderung. Die Kirchen haben immer schon, erst kürzlich wieder die Synode der EKD, entscheidende Elemente eines Einwanderungsrechtes für die angeworbenen Arbeitsmigranten und ihre Familien eingefordert, wenn sie eine weitgehende rechtliche Gleichstellung, das Recht auf Zusammenleben der Familie und ein Verbleibsrecht gefordert haben. Sie sprechen seit zehn, fünfzehn Jahren von einer faktischen Einwanderung dieses Personenkreises, ohne aber Bezug zu nehmen auf etwa, was als ausdrückliches Recht auf Einwanderung auch in der Zukunft anzusehen wäre. Dabei gibt es - ich spreche nur für die katholische Kirche - eine Lehrentwicklung zu einem solchen Recht. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten aus einer universalkirchlichen Perspektive ergeben und in den letzten Päpsten ihre amtlichen Für-sprecher gefunden. Das Recht auf Aus- und Einwanderung ist ein Reflex auf die Migrationen, von denen gerade auch Millionen Mitglieder der Kirche betroffen sind. Von den infrage kommenden Texten, die als amtliche Lehräußerungen des Papstes ein bestimmtes Maß an Verbindlichkeit beanspruchen, seien nur zwei erwähnt:

Aus dem Jahre 1969 stammt eine römische Erklärung zur Migration, in der ein menschenrechtlicher Katalog aufgeführt wird, der über den internationaler Konventionen hinausgeht. Von der Menschenwürde und dem Ausschluß jeder Diskriminierung her werden folgende als universal, wesentlich und unwiderruflich bezeichnete Rechte abgeleitet: Das Recht, frei im eigenen Land zu leben, ein Heimatland zu besitzen, sich innerhalb des eigenen Landes frei zu bewegen, ins Ausland auszuwandern, sich dort aus legitimen Gründen niederzulassen, überall mit seiner Familie zusammenzuleben und über den Lebensunterhalt verfügen zu können. Die Erklärung geht auch auf die Frage ein, ob dies nicht eine Überforderung des Gemeinwohls eines bestimmten Staates darstellen könnte, indem sie die Umsetzung dieser Rechte in einen Gemeinwohlbegriff einfügt, der die ganze Völkerfamilie umfaßt und über jedem Klassen- und Nationalegoismus steht. Fünf Jahre zuvor hatte es Johannes XXIII in einer Grundsatzäußerung bereits folgendermaßen formuliert: Zu den Rechten der menschlichen Person gehöre es auch, sich in diejenige Staatsgemeinschaft zu begeben, in der man hoffe, besser für sich und seine Angehörigen sorgen zu können. Es sei deshalb Pflicht der Staatslenker, ankommende Fremde aufzunehmen und, soweit es das wahre Wohl ihrer Gemeinschaft (Gemeinwohl) zulasse, dem Vorhaben derer entgegenzukommen, die sich einer neuen Gemeinschaft anschließen wollten.

Im vergangenen Jahr hat Johannes Paul II die reichen Länder gewarnt, das Migrationsproblem einfach zu ignorieren. Noch weniger dürften sie ihre Grenzen schließen und die Gesetze straffen, und zwar gerade deswegen nicht, weil der Unterschied zwischen den reichen und armen Ländern, durch den ja die Migration hervorgerufen werde, immer größer werde. Mit dem letzten Hinweis können wir uns der Frage zuwenden, wie die Kirche ihre Forderung nach dem Recht auf Einwanderung begründet. Hier ist es die Verantwortung, die sich aus dem sogenannten Verursacherprinzip ergibt. Aber dies könnte sicher nicht ausreichen, um eine auf das menschenrechtliche Niveau gehobene Forderung des Einwanderungsrechtes zu begründen.

Nur einige Hinweise: Die Kirche gesteht jedem Mensch ein Recht auf Arbeit zu. Dieses ist die Voraussetzung dafür, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und einen gerechten Lohn zu erhalten, der es einem Menschen gestatte, sein und der Seinen materielles, soziales, kulturelles und geistlich-religiöses Leben angemessen zu gestalten.

Hintergrund dieser Vorstellung wiederum ist die Überzeugung, daß Gott die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt habe. Jeder Mensch habe von Natur aus das Recht der Nutzung an den materiellen Gütern der Erde. Dadurch, daß ein Mensch Bürger eines bestimmten Staates sei, höre er keinesfalls auf, Mitglied der Menschheitsfamilie und Bürger dieser universalen Gesellschaft und der Gemeinschaft aller Menschen zu sein.

Mit diesen Ideen verbinden sich weitausgreifende Visionen und Hoffnungen, und dies trotz aller Vorbehalte und Kritik an den bedenklichen Auswirkungen erzwungener Migrationen. Es muß allzu national gesinnten Kreisen fast wie eine Horror-Vision vorkommen, wenn es 1987 zum Welttag der Migranten aus Rom heißt: „Die Migrationen stellen heute ein Zusammentreffen der Völker dar. Durch sie können Vorurteile abgebaut werden, und Verständnis und Brüderlichkeit mit Blick auf die Einheit der Menschheitsfamilie reifen. Im Hinblick darauf sind die Migrationen der vorgerückte Punkt auf dem Weg der Völker zur universalen Brüderlichkeit." Geradezu euphorisch heißt es sogar, durch die Migrationen sei die Gesellschaft ein Schmelztiegel der Rassen, der Religionen und Kulturen geworden, durch den man die neue, dem Menschen gerechte Welt erwarte, die auf Wahrheit und Gerechtigkeit gründe.

Die Solidarität mit Flüchtlingen

Nichts stärker als das Kommen und die Anwesenheit der Flüchtlinge stellt derzeit in der Bundesrepublik die Frage nach dem Menschenbild, nach dem christlichen insbesondere, überhaupt nach dem, was das Humanum in unserer Gesellschaft ausmacht, und wie es sich auf Verhalten und Politik auswirkt.

Um hier einige sozialethische Überlegungen einzubringen, die über das bisher Gesagte hinausgehen, beziehe ich mich auf Asyl-Resolutionen der letzten Jahre, seien es rein kirchliche, rein säkulare oder gemischt kirchlich-säkulare. Ich habe versucht, etwa 100 von ihnen auf ihren ethisch-moralischen Gehalt hin zu untersuchen. Übereinstimmend wird die Behandlung der Flüchtlinge in der Bundesrepublik mit der gewollten und kontinuierlichen Minderung ihrer Lebensmöglichkeiten als ein Unterschreiten des Standards betrachtet, der als der Menschenwürde und der Menschlichkeit entsprechend anzusehen ist. Die Kriterien für diesen Standard sind nicht genau definiert und definierbar und stehen selbstverständlich in einer Abhängigkeit zu dem Standard, der sich als für die Einheimischen human herausgebildet hat. In seiner Grundsubstanz geht es um die Achtung der unverwechselbaren und unverletzlichen Würde des einzelnen Menschen in seiner einmaligen Freiheit und seinem Anspruch auf ein erfülltes Leben.

Das Wesentliche an diesem Humanum ist seine universelle Geltung, die es verhindert oder verhindern soll, daß es unterschiedliche Kategorien von Menschen gibt. Die christliche Überzeugung speist sich hier aus dem Gedanken der Geschöpflichkeit des Menschen, die seine grundsätzliche Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit begründet. Die Gleichheit wird gesetzt gegen alle Formen der Fremdenfeindlichkeit, rassistischer und überzogen nationaler Vorstellungen. Der universale Rahmen, in den die Menschenwürde des Flüchtlings eingebettet ist, führt sehr deutlich zur Infragestellung eines auf das Nationale beschränkten Denkens. Mittlerweile ist der Begriff „Solidarität" in die allgemeine kirchliche Sprache eingegangen und wird bereitwillig in gemeinsamen Erklärungen mit säkularen Organisationen verwendet. Er scheint sogar dort dem Begriff „Liebe" vorgezogen zu werden, wo es um gemeinsame Stellungnahmen mit nichtkirchlichen Verbündeten geht, und, das deckt sich zumeist, die individualisierende Belegung von „Liebe" mit einer politischen Dimension erweitern will.

„Liebe" und erst recht „Caritas" haben in der öffentlichen Verwendung überdies einen sehr ambivalenten Charakter. Ähnliches gilt für das Wort „Hilfe". Beide kommen in den angezogenen Resolutionen fast ausschließlich nur in kirchlichen Äußerungen vor. Auch „Hilfe" konnotiert in der Bundesrepublik zweierlei: die individuelle Zuwendung unter dem Absehen von politischer Veränderung und immer mehr die Notfall- und Katastrophenhilfe, mit der sich der Geldgeber von einer weitergehenden Verpflichtung entlastet. Natürlich kann „Solidarität" das authentische und christlich gefüllte Wort „Liebe" nicht ersetzen und bleibt ebenso wie „Hilfe" gerechtfertigter und notwendiger Ausdruck gerade eines christlichen Einsatzes und Bekenntnisses für Flüchtlinge. Dennoch darf in der häufigeren Verwendung von „Solidarität" eine echte Ausweitung des klassischen Liebes- und Hilfedenkens gesehen werden, die Christen leichter als bisher zu Partnern säkularer Gruppen macht, die Öffnung von Kirche auf die „Welt" und ihre Bereitschaft zur Kooperation mit allen Menschen guten Willens signalisiert.

Eine besondere Komponente der Solidarität ist einmal die Partnerschaft und dann vor allem die Wahrnehmung einer Anwaltsfunktion. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt schließen sich beide Haltungen eigentlich aus; dennoch gehören sie unweigerlich zusammen. Sie schließen sich unter dem Aspekt aus, daß Partnerschaft die Gleichrangigkeit des andern, mit dem man solidarisch sein will, betont, während der Anwalt gegenüber dem Klienten eine unter der Funktion des Anwaltlichen überlegene und absolut nicht gleichrangige Rolle spielt. Die Idee der Anwaltschaft, wie sie sich besonders in der kirchlichen Arbeit für die nichtdeutschen Arbeitnehmer herausgebildet und bewährt hat, sieht die Kirche in einer gesellschaftlich starken Rolle. In dieser Stärke und mit ihr tritt sie an die Seite der Armen und Schwachen, leiht ihnen die eigene Stärke, um sie gegen die Diskriminierung zu schützen und ihre schwache Position in eine stärkere zu verwandeln. Diese Aufgabe im Rahmen der Solidarität geht von einem Machtgefälle zwischen der Kirche und auch anderen Organisationen gegenüber dem „Schwachen" aus mit der Tendenz, diesen an der eigenen Stärke partizipieren zu lassen, ohne von der eigenen Stärke abzugehen und abzugeben. Darin liegt die Chance, aber auch die Problematik der Anwaltsfunktion gegenüber dem partnerschaftlichen Charakter der Solidarität.

Vom Ursprung her ist die Idee der Solidarität allerdings von dem Gedanken getragen, daß die Stärke der sich solidarisierenden Schwachen und Armen in ihrer unverbrüchlichen Einheit und Gemeinsamkeit liegt, die aus dem gleichen Schicksal erwächst. So ist auch der Solidaritätsbegriff zu verstehen, wie wir ihn aus dem Populismus Südamerikas kennen. „Landauf, landab wächst auf unserem Erdteil eine Solidaritätsbewegung zur Verteidigung der Menschenrechte," schreibt Gutierrez. An der Basis und auf Ortsebene sieht er unter den Entrechteten nur so die Solidaritätsgruppen und Solidaritätsorganisationen, die andern Wehrlosen helfen wollen, sprießen. Auf Polen anspielend meint der südamerikanische Theologe, in Europa sei das Wort Solidarität geradezu in Mode gekommen (S. 29). Er läßt dies aber nur gelten, wenn sie zu einer wirksamen Tat der Caritas, der Nächstenliebe und der Liebe zu Gott im Armen wird. Dabei geht es nicht nur um den persönlichen Einsatz, sondern um den der ganzen Gemeinde. Die gesamte Bewegung in Südamerika ist zunächst „keine innerkirchliche Bewegung, sondern ein Prozeß, der sich durch die Geschichte des ganzen lateinamerikanischen Volkes hindurchzieht" (S. 36 f.). Mit den Augen des Glaubens betrachtet, bedeute dies den Einzug der Armen in die lateinamerikanische Gesellschaft und lateinamerikanische Kirche.

Die Situation ist in Europa natürlich eine völlig andere. Es gibt keine populistische Bewegung (mehr) weder der Arbeiter noch der Arbeitslosen oder gar der Flüchtlinge. Es kommt also aus Europa heraus bei aller vorhandenen und auch noch wachsenden Armut zu keiner Bewegung einer Option für die Armen; denn die Armen sind die Menschen der Dritten Welt, die keinen Zugang zu unserem und bei denen wir keinen inneren Zugang zu ihrem Leben haben. Eine Option für die Armen, wie sie nicht nur die südamerikanische Theologie der Befreiung, sondern eine noch weiter greifende ökumenische Theologie der Armen der Dritten Welt fordert und erwartet, hat in Europa selbst keinen Ansatz, es sei denn, es käme zu einem „Eindringen" der Armen in die Kirche und die Gesellschaft.

Ich behaupte nun zusammen mit allen konservativen bis reaktionären Politikern und Menschen, daß dieses „Eindringen" in unsere Welt erfolgt, bzw. ein Prozeß im Gange ist, der auf eine stärkere Infragestellung unserer reichen und privilegierten Position hinausläuft. Die Zeichen der Zeit werden von den ängstlichen Machthabern und ihrer Klientel sogar deutlicher gesehen als von dem Bevölkerungsteil, der flexibler und für Veränderungsprozesse aufgeschlossener ist. Die Konservativen sehen im Kommen der Flüchtlinge das Hereindrängen der Dritten Welt in unser Paradies, was sie mit aller Macht verhindern wollen. Sie verschleiern die Mitverantwortung für die wachsende Destabilisierung der Welt, die mit zunehmenden Fluchtbewegungen einhergeht. Sie übersteigern die Größenordnung der in die Bundesrepublik gekommenen oder noch kommenden Flüchtlinge ins geradezu Wahnhafte. Ihre politischen Reaktionen sind daher völlig unangemessen, ja in der Schaffung eines besonderen Feinbildes, das auf Flüchtlinge bezogen ist, sind sie gefährlich und lebensbedrohend.

Der konzertierten Aktion gegen die Flüchtlinge hat sich in der Bundesrepublik eine Solidarisierung entgegengestellt, die vom Umgang und der Intensität her überraschen muß. Solidarität mit den Flüchtlingen als Inbegriff der Haltung ihnen gegenüber erweist sich dabei letztlich als sehr persönliches Engagement, bei dem Organisationen nur eine sekundäre und abgeleitete Funktion haben können. Allerdings ist diese Funktion für eine politische Intervention unabdingbar. Aber auch in diesem Fall, das lehren die bisherigen Erfahrungen, und künftige dürften es unterstreichen, wird die Dynamik und Kraft aller organisierten Einflußnahmen von persönlichster Betroffenheit und radikaler Identifizierung abhängen. Eine Revitalisierung des Solidaritätsgedankens dürfte eine der Folgen davon sein. Auf jeden Fall zeigt sich, daß in einem solchen nicht nur deklaratorischen, sondern menschenbezogenen, moralischen Engagement eine große, gerade auch politische Kraft liegt, die ich bei dem politischen Einsatz für die Arbeitsmigranten weitgehend vermißt habe und die auf alle legitimen Einwanderer der jüngsten Vergangenheit und der Zukunft ausgedehnt werden müßte.

Konsequenzen

Die politische Umsetzung dieser und ähnlicher theologischer und sozialethischer Vorstellungen in einem neuen Ausländergesetz verbietet Flickschusterei an dem vorgelegten Entwurf. Er ist selbst bereits eine solche. Sie verlangen

vielmehr eine neue Konzeption, die sich m. E. derzeit am besten in den Vorschlägen der Christlich-Demokratischen-Arbeitnehmer widerspiegelt und zwar mit einer nach vorne gerichteten Entwicklung des Nationalstaatsgedankens.

veröffentlicht in: Caritas, Zeitschrift für Caritasarbeit und Caritaswissenschaft, 89. Jahrgang, September 1988, Nr.5, S. 206-212. Text eines Referates, das am 25. Juni 1988 in der Evangelischen Akademie Mülheim gehalten wurde.