"Die Dienstleistungen in der Öffentlichen Bibliothek basieren auf der Gleichheit des
Zugangs für alle, unabhängig vom Alter, Rasse, Geschlecht, Religion, Nationalität,
Sprache oder sozialem Status. Spezielle Dienstleitungen und Materialien müssen angeboten
werden für die Benutzer, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht die regulären
Dienstleistungen und Materialien benutzen können; z.B. sprachliche Minderheiten, Behinderte
und Personen, die sich im Krankenhaus oder im Gefängnis befinden. Alle Altersgruppen müssen
ihren Bedürfnissen entsprechendes Material finden. Sammlungen und Dienstleistungen müssen
alle Arten von zweckmäßigen Informationsträgern und moderne Technologien wie auch
traditionelle Materialien umfassen"
Manifest der UNESCO 1994
Es gibt viele Weisen heimatlos zu sein. Immer sind damit die Wurzeln
betroffen, die einen Menschen mit seiner Kultur verbinden. Das
kann als Befreiung erfahren werden, zumeist ist damit aber Heimweh
verknüpft und das Gefühl etwas unwiederbringlich verloren
zu haben.
Das gilt in erster Linie für Flüchtlinge.
Im Vordergrund steht der Verlust der Familie, der befreundeten
und benachbarten Menschen, der Kolleginnen und Kollegen, der politischen,
religiösen, geistigen, kulturellen Gemeinschaft. Dann ist
es die erzwungene Aufgabe von Haus, Besitz, Landschaft, Arbeit
und Einkommen. Es gilt mit dem Nötigsten bepackt das nackte
Leben zu retten. Aber diese Nacktheit ist schrecklich. |  Frau aus Srebrenica (Ausschnitt) Foto: Christian Jungeblodt (1995)
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Sie bedeutet auf sich allein zurückgeworfen zu sein, in die totale Abhängigkeit
von fremden Menschen und Behörden zu geraten, nichts mehr
oder kaum noch etwas zu gelten.
Gelegentlich wird in Zeitschriften oder bei Interviews die Feuilleton-Frage
gestellt, welche zwei, drei Bücher jemand auf eine einsame
Insel oder auf eine langen Reise mitnehmen würde. Die Antworten
fallen sehr unterschiedlich aus. Oft wird das Buch der Bücher,
die Bibel genannt, meistens sind es aber Werke irgendwelcher Lieblingsautoren,
kaum Sachbücher. Auf jeden Fall spricht die Auswahl von dem
Bedürfnis, in der imaginierten Einsamkeit und Isolierung
nicht völlig von den kulturellen Wurzeln abgeschnitten zu
sein.
Bei den ungezählten Flüchtlingen, die ich kennengelernt
habe, spielten Bücher erkennbar keine Rolle. Unter ihnen
gab es viele, die weder Lesen noch Schreiben konnten. Sie kamen
aus Ländern, in denen ein Großteil der Menschen keine
oder nur eine dürftige Schulausbildung hatte. Herrschte dort
über Jahrzehnte vielleicht Krieg oder Bürgerkrieg, war
ein regulärer Schulbetrieb unmöglich. Sie, aber auch
die meisten anderen dürften in ihrem spärlichen Gepäck
keine Bücher gehabt haben, höchstens irgendwelche Dokumente,
von denen sie oder ihre Angehörigen meinten, sie wären
im Aufnahmeland von Nutzen.
Dennoch bringen sie ihre Kultur mit. Bei Festen oder besonderen
Gelegenheiten zeigen sie sich gern in ihrer Nationaltracht. Die
Frauen haben ihren Schmuck angelegt, wenn er ihnen auf der Flucht
nicht geraubt oder als Schmiergeld geopfert worden war. Sie schlüpfen
in ihre Gewänder und erleben damit den Reichtum ihrer Kultur.
Ich entsinne mich der eritreischen Mutter, die ich im tristen
Flüchtlingsheim kennengelernt hatte. Ich holte sie zu einem
Gottesdienst in ihrer Muttersprache ab. Als sie mit ihren beiden
kleinen Mädchen in der Tracht ihrer Heimat durch die Tür
trat, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Für einen Augenblick
vermeinte ich, der Königin von Saba zu begegnen.
Es sind nicht nur die Festtagskleider, die auf die Kultur verweisen,
es sind vor allem auch die festlichen Mähler, bereitet zu
besonderen Gelegenheiten. Wir hatten als Solidaritätskreis
an die 100 Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran und Eritrea
zu einem gemeinsamen Urlaub in einem Feriendorf Nordhessens eingeladen.
Dort waren wir dann die Gäste. Jeden Tag wurden wir in ein
anderes Haus zum Essen eingeladen. Die Gastgeberinnen und Gastgeber
boten uns die Köstlichkeiten der Heimatküche und zwar
in großer Vielfalt. Wie sie dies bei den beschränkten
Möglichkeiten geschafft haben, blieb uns rätselhaft.
Wir jedenfalls tauchten in diesen Tagen wie nie zuvor in die gastlichen
Kulturen Asiens und Afrikas ein.
Allein von diesen Erfahrungen her mußten wir uns mit Nachdruck
gegen die in der Bundesrepublik herrschende Abschreckungsideologie
wehren. Sie wollte per Gesetz die bescheidenen Möglichkeiten
selbständiger und eigenkultureller Lebensgestaltung beschneiden.
Kürzung und Umstellung der Sozialhilfe auf Sachleistung sollte
den Flüchtlingen das Leben erschweren.
Nationaltracht und Heimatküche sind neben der Muttersprache
wesentliche Pfeiler der Kulturpflege bei Flüchtlingen. Zu
jedem Fest gehört aber auch die Musik. Nur wenige beherrschen
ein Instrument. Die Musik, die sie lieben und hören, kommt
von Kassetten. Vermutlich war die eine oder andere Kassette mit
Liedern aus der Heimat im Fluchtgepäck. Die Mehrzahl der
Kassetten sind aber Kopien von Landsleuten, die hier schon des
längeren leben oder auch mit der Post übersandte Erinnerungen
aus der Heimat. Jedenfalls ist der Kassettenrecorder ein wichtiges
Gerät, um die eigene Kultur in die Fremde zu retten.
Eritreische Frauen, viele sind allein mit ihren Kindern nach Deutschland
gekommen, feiern nicht den eigenen Geburtstag, das ist wohl unüblich,
aber den ihrer Kinder. Auch hier die weiße Tracht und die
traditionellen Gerichte. Der Kassettenrecorder wird gebraucht,
wenn nach dem Essen Tänze der Heimat anstehen. Bis dahin
läuft aber für Stunden der Fernsehapparat und der Videorecorder.
Filme aus der Heimat sind es, schlechte Kopien zumeist, die dritte
oder vierte Generation vom Original, irgendwann und irgendwo mit
bescheidener Technik produziert. Lange Kamerafahrten über
die Hügel der heimatlichen Landschaft, stundenlange Reden
von Führern der Freiheitsbewegung oder der Exilregierung,
professionelle und weniger professionelle Folklore-Darbietungen,
aber auch Bilder über Massaker der Feinde, Kriegsberichte
mit Soldaten in Siegerpose auf erbeuteten Panzern. Videobänder,
Musikkassetten, sie erscheinen wichtiger als Bücher. Gelegentlich
nur gibt es im Fernsehen Berichte über eines der Herkunftsländer
der Flüchtlinge. Das sind für diese emotionale Höhepunkte.
Hier werden sie nicht nur informiert, sondern fühlen sich
vor allem auch in ihrem Fluchtschicksal ernst genommen, ernster
als bei manchen Anhörungen und Gerichtsverhandlungen. Aber
das sind nur seltene Ereignisse zu später Stunde, die nur
wenige deutsche Zuschauerinnen und Zuschauer erreichen. Selbst
noch so gute Sendungen beeinflussen aber weder die öffentliche
noch die politische Meinung.
Das Radio mit Kurzwellenteil ist für politisch interessierte
Flüchtlings eine wichtige Informationsquelle und hier vor
allem der Auslandsdienst der BBC. (Unsereiner fühlt sich
an den 2. Weltkrieg und das heimliche Mithören des britischen
Senders erinnert). Gelegentlich werden wir von unseren Freunden
bereits Wochen, bevor spärliche Nachrichten über den
Konfliktherd in Armenien und Aserbaidschan oder auch am Horn von
Afrika die hiesigen Medien erreichen, informiert. Die über
die Kurzwelle empfangenen Nachrichten lassen bereits zu einem
frühen Zeitpunkt künftige Entwicklungen erahnen.
Viele Informationen erhalten die Flüchtlinge über das
Telefon . Ich erinnere mich an einen Besuch bei einer armenischen
Familie aus dem Iran. Am späten Abend begleitet mich der
Familienvater ein Stück bis zur nächsten öffentlichen
Telefonzelle. Er wolle noch seine Angehörigen in Spanien
anrufen. Flüchtlinge erleben ihre Form der Globalisierung.
Sie haben Angehörige und Landsleute in den verschiedensten
Ländern. So suchen eritreische Familien, die in Deutschland
leben, die Verbindung zu Verwandten in Italien, Großbritannien,
in Kanada, den USA im Sudan oder in einem der Golfstaaten. Telefonate
mit ihnen, auch mit Angehörigen in der Heimat, sind kostspielig,
über die Informationsbeschaffung hinaus aber zur seelischen
Stabilisierung notwendig.
Briefe und Postkarten sind für lese- und schreibkundige Menschen
neben dem Telefon das bevorzugte Mittel, um mit der Familie und
der Heimat in Verbindung zu bleiben. Post ist oft lange unterwegs,
falls sie ihr Ziel überhaupt erreicht. Besonders schmerzlich
ist es, wenn erst nach vielen Wochen per Brief die Nachricht eintrifft,
daß der Bruder oder auch die Mutter verstorben sind. Zur
Trauer kommt dann noch die Enttäuschung, erst so spät
die Nachricht erhalten zu haben und nicht an den Trauerfeiern
teilnehmen zu können. Dies ist in manchen Kulturen eine absolute
Pietätspflicht. So war ein anerkannter Flüchtling aus
Afghanistan durch nichts davon abzuhalten, nach Indien zu reisen,
um die Asche seines verstorbenen Vaters auf rituelle Weise dem
Ganges zu übergeben. Wir müßten das Hessische
Innenministerium einschalten, um die ausländerrechtlichen
Voraussetzungen hierfür zu schaffen.
Zeitungen und Zeitschriften wären eine wichtige Quelle für
alle, die sich über das Lesen aktuell informieren. Wenn es
entsprechende Medien gibt, dann nicht unbedingt in Deutschland.
Sie erscheinen eher in Paris, Rom oder Los Angeles, sind schwer
zu beschaffen, in ihrer Aktualität oft überholt und
vor allem sehr teuer.
Zwei andere Projekte erlebten wir wegen mangelnden Geldes bzw.
fehlender Professionalität als wenig erfolgreich. Es handelte
sich um den finanziell aufwendigen und nur durch Spendenmittel
ermöglichten Versuch, Flüchtlingsfrauen zu alphabetisieren.
Dabei zeigte es sich, daß erwachsene Menschen, die in ihrer
Kindheit nicht gelernt haben zu lernen, kaum in der Lage sind,
mit Gewinn an Bildungsmaßnahmen teilzunehmen. Das zweite
Projekt wollte eritreischen Kindern, die hiesige Schulen besuchten,
an Samstagen die eigene Schrift und Kultur vermitteln. Hier fehlte
es letztlich an geeigneten Lehrkräften
Der Kontakt und die Freundschaft mit Flüchtlingen ist eine
Quelle menschlicher, vor allem auch kultureller Bereicherung.
Armenische Christen aus dem Iran machen uns z.B. bewußt,
daß es dort eine große Minderheit mit jahrhundertealter
christlicher Überlieferung gibt. Eine Hochzeit und eine Beerdigung,
an der wir als Solidaritätsgruppe teilnehmen, lassen uns
einen Einblick in die Riten einer traditionsreichen Kirche gewinnen.
Das laute Weinen der Frauen, die sich im Zimmer des um seinen
Bruder trauernden Asylbewerbers aus Eritrea eingefunden haben,
erinnert an die Klageweiber der Bibel. Das strenge Fasten der
armenischen Lehrerin, zu dem auch der Verzicht auf Eier und Milchprodukte
gehört, lassen die Fastenregeln strenger mittelalterlicher
Orden in neuem Licht erscheinen. Dies und viele andere Erfahrungen
wecken unser Bedürfnis nach einer vertieften Beschäftigung
mit dem vorderasiatischen Kulturraum. Wir erleben ihn als prägenden
Hintergrund unserer Kultur.
Papiere, Papiere, in deutscher Sprache vom Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, vom Sozialamt,
von der Schule, von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten,
von Gerichten, vom Einwohnermeldeamt. Sie sind schon für
Deutsche kaum verstehbar. Wie sollen Flüchtlinge, selbst
wenn das Behördendeutsch übersetzt würde, was schier
unmöglich ist, ihren Gehalt verstehen? Lange und umständliche
Erklärungen von Fachleuten sind unumgänglich. Das Dolmetschen
gehört zu den schwierigen, aber lebenswichtigen Diensten
für Flüchtlinge.
Wenn ich mich an Bücher bei Flüchtlingen erinnere, dann
waren es vielleicht Wörterbücher und Bibeln, beides
Bücher, die für eine Ausleihe wohl ungeeignet sind. Im
Flüchtlingslager Schwalbach bei Frankfurt, dem Erstaufnahmelager
Hessens halten meine evangelischen Kollegen Bibeln und Bibelteile
in den verschiedensten Fremdsprachen vor. Bei ökumenischen
Gottesdiensten werden sie auf Anfrage oder Wunsch an interessierte
Flüchtlinge abgegeben, vor allem an Christen aus Afrika oder
Asien. Gelegentlich sind auch Muslime an einer Bibel interessiert.
Dabei soll aber keinesfalls der Eindruck erweckt werden, muslimische
Flüchtlinge würden missioniert. Bücher gehören
zu den Grundbedürfnissen, wenn erst einmal die Flucht überstanden
und etwas seelische Ruhe eingetreten ist. Bisweilen kommen Flüchtlinge
auch aus Gebieten wie Albanien, wo es bestimmte Bücher einfachhin
nicht gab, sie waren verboten.
Das Informationsbedürfnis von Flüchtlingen ist am Anfang
und für lange Zeit geprägt von dem Bemühen, zu
verstehen, was um sie herum vorgeht, wie sie ihr Leben gestalten
können, wie sie Arbeit finden, wie sie Kontakt mit der Familie
und Landsleuten aufnehmen können, wer ihnen hilft, das Asylverfahren
zu durchlaufen, wie sie medizinisch versorgt werden, welche Einrichtungen
es für ihre Kinder gibt.
Für geraume Zeit sind sie außerstande, die deutschsprachigen
Medien zu verfolgen oder gar zu verstehen. Nicht nur die Sprache
ist fremd, sondern der ganze politische, gesellschaftliche und
kulturelle Diskurs ist ein Buch mit sieben Siegeln.
Wenn sich Flüchtlingsgruppen regional, national oder auch
international organisieren, herrschen politische Interessen und
Informationsbedürfnisse für das, was in der Heimat ansteht,
vor. Dabei zeigt sich sofort auch der Pluralismus der Parteien
mit jeweils anderen Präferenzen. Vielleicht spielen sogar
noch brutale Bruderkämpfe aus der Heimat, wie wir sie derzeit
bei den Kurden im Nordirak erleben, eine Rolle. Es ist eine schwierige
Aufgabe, die ethnische, religiöse und parteipolitische Vielfalt
der jeweiligen Flüchtlingspopulationen richtig einzuschätzen.
Das gelingt der deutschen Gesellschaft kaum bei Türken und
Kurden. Es zeigte sich bei dem Konflikt in Bosnien in der Überraschung
über die dort bestehenden ethnischen Verschiedenheiten und
Spannungen. Was erst, wenn es um die Stammesvielfalt in afrikanischen
Ländern geht!
Bevor ich darauf eingehe, was die dargelegten Erfahrungen und
Erkenntnisse mit der Aufgabe einer öffentlichen Bibliothek
zu tun haben, noch ein Erlebnis der letzten Tage. Ich erhielt
Besuch von Tesfai, der aus Eritrea stammt, und den ich seit zehn
Jahren kenne. Er brauchte meine Unterstützung und meinen
Rat. Er will sich - hier auf Sozialhilfe angewiesen - in der Heimat
eine neue Existenz aufbauen. Da er sich sprachlich trotz langer
Anwesenheit in Deutschland nicht ausreichend verständigen
konnte, brachte er nicht nur einen Stapel Formulare
der Deutschen Ausgleichsbank sondern auch seinen Freund mit. Dessen
Sprachgewandtheit lag aber nur unwesentlich über der von
Tesfai. Ich konnte sie mit Kuchen bewirten, den mir eine eritreische
Mutter zu Ostern gebacken hatte. Dazu gab es Tee nach eritreischer
Art mit Nelken gewürzt. Die beiden meinten, es sei wie Zuhause.
Tesfais Freund hatte ein Buch bei sich. Es wirkte wie ein Ausweis
seines literarischen Interesses und seiner Sprachkompetenz. Und
als wollte sein Unterbewußtsein genau dies unterstreichen,
ließ er es beim Abschied liegen. Es stammte aus der Stadtbücherei
Frankfurt, der Rückgabetermin war gerade abgelaufen. Es war
irgendein Roman aus dem Rowohlt-Verlag. Ich war überrascht,
daß der junge Mann, der das vergessene Buch gleich darauf
bei mir abholte, sich deutschsprachige Bücher auslieh.
In1987 hat eine Sektion der IFLA (International Federation of Library
Associations and Institutions) Richtlinien für Dienstleistungen
von Bibliotheken für multikulturelle Gesellschaften verabschiedet.
Diese haben offensichtlich auch Eingang gefunden in das Manifest
der UNESCO von 1994 über Öffentliche Bibliotheken (s.
Vortext). Das ihnen zugrunde liegende Konzept ist umfassend und
differenziert. Es dürfte nicht schwer sein, die im ersten
Teil dargelegten konkreten Erfahrungen als Folie auf die Richtlinien
oder auch umgekehrt zu legen. Dabei weiß ich nicht einzuschätzen,
inwieweit der international für öffentliche Bibliotheken
gesteckte Rahmen auch auf die Bundesrepublik anwendbar ist. Menschen
vom Fach werden dies wissen und müssen deshalb die nötigen
Abstufungen vornehmen
Multikulturelle Gesellschaften sind im allgemeinen Verständnis
Länder mit diversen eingewanderten oder ansässigen Minderheiten.
Hinter den USA ist die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg übrigens
das größte Einwanderungsland der Welt, allerdings ohne
bisher eine entsprechende Einwanderungspolitik entwickelt zu haben.
Das dürfte seine Auswirkungen auch auf den Bibliotheksbereich
gehabt haben Einer vernünftigen Einwanderungspolitik steht
bei uns seit Jahrzehnten der politische "Glaubenssatz"
entgegen, wir seien kein Einwanderungsland.
Sicher ist Deutschland kein klassisches Einwanderungsland wie
die USA, Kanada oder Australien. Es ist aber nicht zuletzt durch
die millionenfache Anwerbung von Frauen und Männern in Süd-,
Südosteuropa, der Türkei und Nordafrika zu einem Einwanderungsland
neueren Typs geworden. Die fehlende oder falsche Einwanderungspolitik
kann am besten so umschrieben werden, daß Deutschland seit
geraumer Zeit ein Einwanderungsland geworden ist, das aber partout
kein solches sein will.
In diesem Zusammenhang muß auch die Angst gesehen werden,
daß die Aufnahme von Flüchtlingen zu einer indirekten
Einwanderung führen könnte. Wenn Flüchtlinge einmal
im Land sind, rückt ihre Heimkehr aus den verschiedensten
Gründen in immer weitere Ferne. Die politischen und wirtschaftlichen
Verhältnisse in der Heimat bleiben über viele Jahre
so katastrophal, daß eine Rückkehr unzumutbar ist.
Gleichzeitig kommt es vor allem durch die Geburt und das Heranwachsen
von Kindern zu einer allmählichen Verwurzelung im Aufnahmeland.
Von einem gewissen Moment an wird eine Rückkehr immer unwahrscheinlicher,
selbst wenn sich die Verhältnisse zu Hause zum Besseren gewendet
haben sollten. In dieser Situation sind eine ganze Reihe von Flüchtlingsgruppen,
so z.B. die Kurden aus der Türkei und dem Irak, Flüchtlinge
aus dem Iran, aus Afghanistan und manchen afrikanischen Ländern.
Bei all diesen Gruppen wachsen die Bedürfnisse nach einer
Versorgung mit Medien. Sie müssen immer mehr dazu verhelfen
nicht nur zu überleben, sondern sich in der neuen Umgebung
zu integrieren, ohne die Herkunftskultur zu verlieren.
Es ist also wichtig, wenn wir Deutschland als multikulturelle
Gesellschaft sehen, nicht nur an die "klassische" Arbeitsmigration
mit Italienern, Spaniern, Kroaten und Türken zu denken, sondern
auch an die neuen Einwanderungsgruppen aus den Fluchtbewegungen.
Damit müßten auch ihre Bedürfnisse als kulturelle,
sprachliche und ethnische Minderheiten ernst genommen werden,
ja vielleicht erst einmal richtig in den Blick kommen.
Die vorliegende internationale Konzeption geht in immer wiederkehrender
Formulierung von ethnischen, fremdsprachigen und kulturellen Gruppen
der Gesellschaft aus, denen die Dienstleistungen der Bibliotheken
gleichermaßen und ohne Unterschied zur Verfügung zu
stehen hätten. Das wird in allen für diese öffentlichen
Einrichtungen belangvollen Aspekten ausformuliert. Nur einige
von ihnen seien im Folgenden benannt und kommentiert.
Die IFLA-Richtlinien machen keinen Unterschied, wie diese Gruppierungen
entstanden sind, ob es sich um autochthone oder indigene Volksgruppen
handelt, ob die Gruppen Folge einer Anwerbung von Arbeitskräften,
einer Aufnahme von Flüchtlingen, der Freizügigkeit innerhalb
einer größeren Region wie der Europäischen Union,
oder gar nichtlegaler Beschäftigung sind. Aus deutscher Sicht
und unreflektiert könnte es nämlich so aussehen, als
bezöge sich das Konzept auf Minderheiten der Arbeitsmigration.
Das ist aber nicht der Fall, zumal IFLA eine globale Vereinigung
ist, die unterschiedlichste sozio-kulturelle Bedingungen widerspiegeln
dürfte.
In den Bibliotheken sollen Materialien in allen relevanten
Sprachen und in Übereinstimmung mit den verschiedenen
Kulturen zur Verfügung stehen. Das würde bei den Kurden
bedeuten, daß sie nicht nur Literatur in Türkisch sondern
eben auch in Kurdisch, also in einer Sprache, die in ihrer Heimat
unterdrückt wird, zur Verfügung haben. Ähnliches
mag gelten für Armenier aus dem Iran oder andere Minderheiten,
die in ihrer Heimat selbst schon (unterdrückte) Minderheiten
waren oder sind. Auch Zweitsprachen eines Landes sind zu berücksichtigen.
Die Materialien dürfen sich naturgemäß nicht auf
Bücher oder Broschüren beschränken. Sie schließen
Zeitschriften und Zeitungen mit ein. Wenn hier keine Zeitungen
aus der Heimat vorgehalten werden können, sind englischsprachige
Tages- oder Wochenzeitungen mit einem größeren Anteil
an internationaler Berichterstattung sehr hilfreich. Wesentlich
für Minderheiten, bei denen es ein niedriges Leseniveau oder
eine hohe Analphabetenrate gibt, sind Ton- und Video-Aufnahmen.
Ergänzende Materialien sind aber Landkarten, Bilder und Dias.
Noch einen Schritt weiter gehen die internationalen Richtlinien,
wenn sie einer Bibliothek nahelegen, soziale und kulturelle Gemeinschaftsaktivitäten
zu organisieren. Dazu würden Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen
und Ausstellungen gehören. Sie könnte auch die Mitverantwortung
oder Initiativen für entsprechende Veranstaltungen und Festlichkeiten
in ihrem Einzugsbereich übernehmen.
Die Richtlinien machen Unterschiede, wie sie auch für die
Gesamtbevölkerung gelten, vor allem die nach Alter und
Lebensumständen. Das ließe zum Beispiel danach
fragen, was Angehörige von Minderheiten brauchen, die noch
nicht lange im Land sind gegenüber denen, die inzwischen
ansässig geworden sind. Menschen, die wegen besonderer Umstände
die normalen Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen können,
bedürfen eigener Leistungen. Erwähnt werden z.B. Menschen
in Strafvollzugsanstalten. Zu denken wäre aber auch an Asylbewerber,
die verpflichtet sind in einem Lager zu leben, deren Freizügigkeit
gesetzlich beschränkt ist oder die sich nach Ablehnung ihres
Asylantrags in Abschiebehaft befinden.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Kinder. Sie müssen
nicht nur in einem schwierigen Prozeß in die deutschen Schulen
integriert werden, sondern sollen auch in die Herkunftskultur
eingeführt und in ihrer Muttersprache gefördert werden.
Unterschieden werden müssen die Minderheiten auch nach ihrem
Bildungsstand. Wir haben es je nach Volksgruppe mit einer
mehr oder weniger starken Schicht von Intellektuellen aus den
urbanen Bereichen zu tun, aber eben auch mit der Mehrheit nicht
oder kaum beschulter Menschen aus ländlichen Regionen. Die
Förderung von Alphabetisierungsprogrammen wird als genuine
Aufgabe von Bibliotheken erachtet. Auch die Erhöhung der
Sprach- und Lesekompetenz wird als zusätzliche Aufgabe von
Bibliotheken angesehen. Dazu wären u. U. auch Kurse zur Erlernung
der Nationalsprache und anderer Sprachen anzubieten.
Der Umfang der Versorgung sollte sich an der Pro-Kopf-Versorgung
für die allgemeine Bevölkerung orientieren. Dabei müßte
für kleine Gruppen eine höhere Quote angesetzt werden.
Minderheiten sind oft dadurch charakterisiert, daß sie in
kleinen Zahlen auf ein großes Staatsgebiet verteilt leben.
Auch ihnen will das Konzept dadurch Rechnung tragen, daß
ihnen durch Fernleihe oder durch Vernetzung lokaler Einrichtungen
Materialien leicht und schnell zu Verfügung gestellt werden
können.
Die Verantwortung gegenüber dem kulturellen Erbe der
Minderheiten soll nicht zuletzt dadurch entsprochen werden, daß
Originalmateralien konserviert werden und Sammlungen von Archivalien,
der ethnischen Geschichte und der mündlichen Überlieferung
zumindest auch überregional unterhalten werden.
Alle Flüchtlingsgruppen entwickeln im Laufe der Jahre eigene
Organisationen. Oft sind es auch die Exilparteien oder
-organisationen, die ihren Mitgliedern und Angehörigen ihrer
Nation zur Seite stehen. Auch sie versuchen mit Kulturveranstaltungen,
gemeinsamen Treffen und Publikationen den Zusammenhalt der Landsleute
zu fördern. Ein passendes und ausreichendes bibliothekarisches
Programm für eine Minderheit läßt sich nicht entwickeln,
ohne auf die vorhandenen Gemeinschaftsstrukturen zurückzugreifen.
Das diesen Ausführungen zugrunde liegende Konzept verweist
immer wieder darauf, die Minderheiten selbst in die Planungen
einzubeziehen. Wichtige Ansprechpartner wären darüber
hinaus auch die Beratungsdienste der Wohlfahrtsverbände und
die Solidaritätsgruppen. Sie kommen von sich aus kaum auf
die Idee, öffentliche Bibliotheken in dem aufgezeigten Sinn
anzugehen und zu nutzen. Zu sehr stehen bei ihnen die unmittelbaren
Anliegen des Asylverfahrens, der Lebensführung und des Abschiebungsschutzes
im Vordergrund.
Die Richtlinien der IFLA - selbst nur auszugsweise herangezogen
- haben mit der bundesdeutschen Wirklichkeit wenig gemein. Angesichts
der Kürzungen in den Kultur- und Bildungsetats ist eine entsprechende
Umsetzung noch schwieriger geworden. Wichtig erscheint nur, daß
es überhaupt ein solches, international beschlossenes Konzept
gibt, daß in überzeugender Weise die für die Gesamtbevölkerung
geltenden Richtlinien auf die ansässigen, eingewanderten
oder in einem Einwanderungsprozeß befindlichen Minderheiten
zu übertragen trachtet. Dabei gilt, daß die Pflege
der Minderheitenkulturen nicht einem gnadenlosen Assimilierungsdruck
geopfert werden darf. Somit stellen die Richtlinien zukunftsweisende
Maximen einer multi- oder interkulturellen Gesellschaft dar, wenigstens
schon einmal für den Sektor des Bibliothekswesens.
Eine Konzeption in guten Tagen verabschiedet muß ihre Kraft
in weniger guten unter Beweis stellen. Wir befinden uns gesellschafts-
und bildungspolitisch in der bedenklichen Phase, daß akuter
Finanzmangel nicht nur zu drastischer Sparsamkeit und zum Einfrieren
des Erreichten führt, sondern sogar zum Abbau. Noch bedrohlicher
ist es aber, wenn die Grundsätze und Richtlinien selbst aufgegeben
werden. Was IFLA entwickelt hat, bleibt richtig und gültig.
Jeder, der sich diesem oder einem ähnlichen Entwurf verpflichtet
fühlt, kann immer noch versuchen in seinem Einflußbereich
den einen oder anderen Schritt in die vorgegebene Richtung zu
machen. Dann wäre das Konzept nicht einfachhin Illusion sondern
nach vorne drängende Utopie! U-Topia - das Irgend- oder auch
Nirgendwo ist selbst eine Form der Heimatlosigkeit, die produktiv
ausgehalten werden muß.

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