Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL 1999

Deutschland sollte viel mehr Flüchtlinge aufnehmen

Zur Entlastung von Albanien und Mazedonien die Quoten erhöhen

"Meinung" in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
vom 25. April 1999

INHALT
EU und damit auch Deutschland sollten sich auf Aufnahmequoten für Flüchtlinge aus dem Kosovo einigen und die Abschottung der Grenzen aufheben.

Zwei Stunden hat es auf der Limburger Ausländerbehörde gedauert, dann ist die Absage endgültig. Ernst Leuninger, Beauftragter des Bischofs für Bosnien und den Kosovo wollte einen hohen Geistlichen der Aleviten aus dem Kosovo zu einem Visum nach Deutschland verhelfen. Dazu erklärte er sich bereit, die Kosten für seinen Unterhalt zu übernehmen. Der Geistliche der islamischen Gemeinschaft, die mit den Sunniten das Glaubensbekenntnis gemeinsam hat, aber keine Moscheen kennt, war aus dem Kosovo in die Türkei geflüchtet. Von dort nahm er Kontakt mit Leuninger auf. Er hatte ihn auf dessen letzter Reise in den Kosovo kennengelernt. Die Türkei ist für Aleviten ein heißes Pflaster, gelten sie doch nicht als rechtgläubig.

Der katholische Geistliche kann nicht helfen, auch der Leiter der Ausländerbehörde in der Bischofsstadt nicht. Denn es gibt seit dem 13. April einen Erlaß des Hessischen Innenministers, wonach Flüchtlinge aus dem Kosovo oder Jugoslawien kein Visum, auch kein Besuchsvisum mehr erhalten. Begründung: eine weitere Übernahme von Flüchtlingen aus dem Kosovo über die bereits 10.000 aufgenommenen sei nicht vorgesehen.

Deutschland fühlt sich in Europa ein wenig als Spitzenreiter der Humanität, weil es ein Kontingent von 10.000 Flüchtlingen aus den drangvoll überfüllten Lagern in Mazedonien und Albanien übernommen hat. Bundesinnenminister Otto Schily hat im Rahmen der EU-Präsidentschaft versucht und versucht es immer noch, die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu vergleichbaren Kontingenten zu bewegen, mit mäßigem Erfolg. Vor allem haben sich die großen Länder wie, Italien Großbritannien und Frankreich geweigert, der deutschen Initiative zu folgen. Sie hielten es für besser, die Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimat zu versorgen. Dann könnten sie auch schneller wieder dorthin zurückkehren. Außerdem dürfte die Poltitik der" ethnischen Säuberung' eines Milosevics nicht nachträglich noch sanktioniert werden. Dies war anfänglich wohl auch die Politik des UN-Hochkommissariates für Flüchtlinge, das weltweit über Erfahrungen solcher Vertreibungsdesaster verfügt.

Die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL hat mit Beginn der Massenvertreibung aus dem Kosovo eine andere Politik, eine der offenen Grenzen für Flüchtlinge in der EU und auch in Deutschland gefordert. Gemeinsam sollte man sich auf Umfang und Quoten der Flüchtlingsaufnahme einigen und die Abschottung der Grenzen aufheben. In dieser Sicht kämen auf die Bundesrepublik nicht nur 10.000 sondern vielleicht 100.000 vertriebene Kosovo-Albaner, serbische Deserteure und bedrohte Roma zu. Da sich aber maßgebliche EU-Länder gegen eine anteilige Aufnahme von Flüchtlingen sperren, dürfte es schwierig sein, die deutsche Politik, und dabei insbesondere die der Länder zu einer Kursänderung zu bewegen.

Dahinter steht die Sorge, Flüchtlinge, einmal aufgenommen, würden nicht mehr oder in zu geringem Maße nach Beendigung der Krise in ihre Heimat zurückkehren. Das hat zu einer sehr zögerlichen Haltung in der Aufnahme vor allem aber auch zu einer harschen Abschiebepolitik geführt. Besonders betroffen waren in den letzten Jahren Flüchtlinge aus dem Kosovo. Deutschland hatte - trotz ausdrücklicher Kriktik der Menschenrechts- und Wohlfahrtsorganisationen - mit Milosevic ein Abkommen getroffen. Dieses verpflichtete ihn aus Deutschland abgewiesene Flüchtlinge seines Herrschaftsgebietes unter Wahrung der Menschenrechte zurückzunehmen! So sind unter den jetzigen Flüchtlingen, die es in die Nachbarländer des Kosovo geschafft haben, auch solche, die Deutschland seinerzeit verlassen mußten, weil sie nicht als bedroht galten. Ihnen ist der Zugang nach Deutschland verwehrt. Dabei läge es nahe, daß ihnen durch uns zugefügte Unrecht durch eine neuerliche Aufnahme gutzumachen. Viele andere Flüchtlinge haben Angehörige, die in der Bundesrepublik ansässig geworden sind und auch unter großen Opfern bereit wären, ihre Verwandten aufzunehmen. Hier erwächst Deutschland aus jahrzehntelanger jugoslawischer Arbeitsmigration eine zusätzliche Verantwortung. Sie kann nicht einfach über Quoten abgegolten werden.

Das Flüchtlingsamt der Vereinten Nationen hat seine Strategie geändert. Der Ruf nach Übernahme von Flüchtlingen durch die westeuropäischen Staaten wird lauter und eindringlicher. Es ist von einer Notevakuierung die Rede, um nicht zuletzt den Druck von der mazedonischen Regierung zu nehmen. Sie soll damit veranlaßt werden, die Grenzen für weitere Flüchtlinge offenzuhalten. Die UN-Flüchtlingskommissarin Sadako Ogata erwartet, daß Westeuropa auf jeden Fall einmal die zugesagten Kontingente von 70.000 übernimmt. Die Bundesrepublik wird für ihre schnelle und unbürokratische Aufnahme von Kosovo-Albanern gelobt. Frau Ogata hofft, daß Deutschland mit seinem guten Beispiel auch die Bereitschaft der anderen Europäer erhöht, ihren humanitären Verpflichtungen nachzukommen. Dabei schließt sie nicht aus, daß Deutschland sein Aufnahmekontingent verdoppeln muß.

Selbst das wird voraussichtlich nicht reichen. PRO ASYL nennt seit Wochen eine Zahl von bis zu 100.000, auf die sich Deutschland aufgrund des ungeheuren Vertreibungsdruckes einstellen müßte. Bis jetzt sind 700.000 Menschen über die Grenzen geflüchtet, Hunderttausende irren noch im Kosovo selbst umher; Albanien und Mazedonien befinden sich im Staatsnotstand. Niemand kann sagen, wann der Krieg zu Ende und eine Rückkehr der Flüchtlinge " in Würde und Sicherheit' möglich sein wird. Es könnte lange dauern. Zeltstädte müssten in Barackenlager verwandelt werden, Infrastrukturen im Umfang von Großstädten, wären zu errichten und zu unterhalten. Das ist eine gigantische Aufgabe, die, wenn überhaupt, nur zu leisten ist, wenn die westeuropäischen Länder zur Entlastung der Region ihre Quoten deutlich erhöhen.

Frau Ogata sprach in diesen Tagen anerkennend von der großen Belastung Deutschlands durch die bosnischen Flüchtlinge. Die Leistung war sicher beachtlich, aber nicht exzeptionell. Andere, kleinere Länder wie Österreich und Schweden z. B. haben auf ihre Bevölkerung bezogen noch mehr Flüchtlinge aufgenommen. Von den 330.000 bosnischen Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen waren, sind übrigens 260.000 bereits unter mehr oder minder starkem Druck in die Föderation zurückgekehrt; damit wäre also wieder Platz.