Herbert Leuninger ![]() | ARCHIV ASYL 1998 | ||
![]() Schengen-Romantik | |||
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Dieser Tage habe ich eine Flasche Wein zum Geschenk erhalten. Auf dem Etikett steht „Chateau de Schengen“, Schloß Schengen. Es zeigt eine romantische Anlage, der Schlossturm ist von Weinreben umrankt. Symbol eines gehobenen Lebensstils und gesteigerter Lebensfreude, zumindest für eine privilegierte Kaste. Der Schengener Abkommen, dessen Besitzstand ab 1999 in die EU übernommen wird, verspricht den Bürgerinnen und Bürgern von Schengenland eine neuartige Lebensfreude mit interner Grenzenlosigkeit, der Befreiung von Pass- und Zollkontrollen und einer unbeschränkten Reisefreiheit. Dafür ist aber ein Preis zu zahlen, ein sehr hoher Preis und diesen Preis bezahlen MigrantInnen und Flüchtlinge. Denn Schloss Schengen als europäischer Raum der Freizügigkeit wird an den Aussengrenzen als Festung ausgebaut. Diese Festung hat weit draussen umfangreiche Vorwerke, tiefe Gräben und hohe Wallanlagen: Schengen, das bedeutet Visumszwang für über 130 Länder, und gerade für die Länder, aus denen möglicherweise Flüchtlinge kommen können. Schengen, das bedeutet hohe Strafen für Fluglinien, wenn sie es wagen sollten, Flüchtlinge zu befördern, die über keine, über unzureichende oder gar gefälschte Reisedokumente verfügen. Die Folge ist, dass private Unternehmen auf den Abflughäfen in eigener Regie hoheitliche Funktionen wahrnehmen und die Pässe kontrollieren. Zu Vorwerken degradiert werden die Nachbarstaaten, in die Flüchtlinge zurückgeschickt werden, wenn sie durchgereist sind. Auch werden als Torwachen eingesetzt, um bereits an ihren Grenzen mögliche Asylbewerber zurückzuweisen oder festzunehmen. Schengenland ist ihnen in jeder Weise behilflich, die eigene Grenzüberwachung und -befestigung zu verstärken. Polen gilt als Musterknabe, der sogar gemeinsamen Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze zugestimmt hat. Sogar die Türkei soll von der EU als Fluchtverhinderungsstaat einbezogen und ausgerüstet werden. Schengen - das heißt Niemandsland, dazu werden die Transitzonen der Flughäfen für Flüchtlinge erklärt, das gilt vor allem für den grossen internationalen Flughafen Frankfurt. Wenn dort Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern oder mit unzulänglichen Ausweisen eintreffen, werden sie festgenommen und interniert. Sie gelten noch nicht als eingereist, werden in isolierter Lage, vielleicht sogar über Monate wie in einem Gefängnis gehalten mit der ständigen Furcht in das Heimatland zurückgebracht zu werden. Le Fort de Schengen ist mit dicken Mauern und Wehrtürmen umgeben. Schengen heißt fast lückenlose Überwachung mit Hubschraubern, Nachtsichtgeräten, Schnellbooten und ganzen Staffeln deutscher Schäferhunde. Auch Geräte, um menschliche Ausdünstungen in Container-Verstecken aufzuspüren, gehören mittlerweile zum Alltag der Grenzschützer. Die Oder-Neisse-Grenze gilt als Europas bestbewachte Grenze. Schengen, das bedeutet auch das Schengener Informationssystem mit seinem sekundenschnellen Datenaustausch. Der Zentralcomputer enthält hunderttausende Einträge über Menschen, die an der Grenze zurückzuweisen sind. Schengen, das bedeutet Hunderte Menschen, die den Versuch nach Westeuropa zu gelangen mit dem Leben bezahlen. Sie weil ertrinken in Grenzflüssen, kentern auf seeuntüchtigen Schiffen und Booten vor den Küsten, ersticken in Zwischenböden von Lastzügen, verunglücken, von der Polizei verfolgt, in überladenen Kleinlastern. Schloss Schengen das ist auch Überwachung innerhalb der Festung.
Die Frage der Inneren Sicherheit wird hochgespielt und ihr werden immer mehr Bürgerrechte und Menschenrechte zum Opfer gebracht. Vor allem werden Flüchtlinge und MigrantInnen in Bedrohungsvorstellungen einbezogen, Sie werden in einem Atemzug mit Drogenhandel, transnational arbeitende Mafia und Schmugglerbanden ineins setzen. Flüchtlinge und MigrantInnen gehören zum neuen Feindbild. Und wenn es um die Produktion eines solchen Bildes geht, dann gehören auch alle Formen der Entrechtung und Herabsetzung hinzu. Hierher gehört das Bündel der Rechtsverschlechterungen, der Ausgrenzung und Entwürdigung für asylsuchende Menschen. Die Festung Schengen (Europa) hat bedrohten und vertriebenen Menschengruppen eine Art Krieg erklärt, einen Krieg unterhalb der eigentlich heissen Phase, in der Fachsprache als Konfliktregelung mit niedriger Intensität bezeichnet. Das Weinetikett vom Chateau de Schengen ist nach einem Bild des französischen Dichters Victor Hugo entworfen worden. Er mußte nach der Errichtung des Zweiten Kaiserreiches fliehen und lebte 19 Jahre im Exil auf einer Insel vor Frankreichs Küste. Dort hat er auch seinen berühmten Roman „Les Miserables“ „Die Elenden“ geschrieben, Grundlage des gleichnamigen Musicals. Er konnte nicht ahnen, dass die Flüchtlinge am Ende des 20. Jahrhunderts zu den Miserablen gemacht werden, nicht nur von ihren Vertreibungsländern her, sondern auch von ihren möglichen Aufnahmeländer. In diesem Romanwerk ist der Satz enthalten, den ich zu unser aller Besinnung an den Schluss setze.
Und ich füge hinzu, ein Europa, daß zu einer Festung gegen Flüchtlinge und MigrantInnen wurde, ist ein minderwertiges Europa. Und ein solcher Europa, ein solches Schengen-Schloss wollen wir nicht!. Redetext für die Kundgebung der KARAWANE am 12. 9. 1998 in Frankfurt/M. KARAWANE war ein Demonstrationszug für die Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen, der vom 14. 8. - 20.9.1998 stattfand und unterwegs in verschiedenen Städten Station machte. |