Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1997

Diskussionsbeiträge

Die Rechtssprache:
Fachjargon und Herrschaftsinstrument


INHALT
Wenn ich den Flüchtling als wirkliches Rechtssubjekt betrachte, und das Verstehen im Verfahren von zentraler Bedeutung ist, dann wird das Übersetzen in unserem Rechtsstaat nicht ausreichend gewürdigt.


Ich darf, meine Damen und Herren, mit einer Vorbemerkung beginnen. Es wird an diesem Tisch soziologisch völlig korrekt von Unter- und Oberschicht gesprochen. Ich persönlich habe Schwierigkeiten, diesen Sprachgebrauch zu übernehmen. Ich sage lieber, Menschen mit geringerem Einkommen und Menschen mit höherem Einkommen. Trifft es auch nicht ganz. Trifft es aber besser, sobald ich den Bildungsbereich noch hinzunehme. Ich sage das nur, weil ich hinter dem Sprachgebrauch, nicht hier an diesem Tisch, sondern generell ein Überlegenheitsgefühl spüre, das sich durchaus auch gerade im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, bis zu einem imperialen Gehabe versteifen kann.

Ich beginne mit zwei Übersetzungsproblematiken, mit denen ich heute morgen, bevor ich meine Reise angetreten habe, zu tun hatte. Die eine ergab sich aus der Stellungnahme einer Münchener Psychotherapeutin, es war keine Juristen-, aber medizinische Fachsprache. Es ging um die Schwierigkeiten bei Abschiebungen von bosnischen Flüchtlingen. Nach dem Gutachten führt diese zu einer Retraumatisierung und Verhinderung einer adäquaten Behandlung, mit der Gefahr der Chronifizierung traumatisch bedingter Erkrankungen und deren Weitergabe an spätere Generationen. Das ist Fachsprache. Kann man es einfacher sagen? Vielleicht, aber bei vereinfachter Aussage wird unter Umständen wichtiges der Gesamtkonnotation verlorengehen. Das ist die Schwierigkeit jeder Übersetzung, auch jeder Übertragung von Fachsprache in eine alltäglich zu verstehende Sprache. Ich möchte diese psychotherapeutische Stellungnahme nächste Woche in München bei einer internationalen Bosnienkonferenz des Europäischen Flüchtlingsrates verwenden. Mein Englisch reicht nicht aus, um Chronifizierung übersetzen zu können. Vielleicht können Sie mir da helfen. Ich habe eben noch in meinem Übersetzungsprogramm nachgesehen: „Chronifizierung“, in dieser deutschen Weise der Dynamisierung von Substantiven, da war nichts zu machen. Auch ein CD-Lexikon der amerikanischen Sprache konnte mir nicht weiterhelfen. Immerhin kam ich dort noch bis Chronicity.

Das zweite Problem heute morgen. Ich mußte noch ganz schnell einen Text überfliegen. Und zwar eine Stellungnahme des Europäischen Flüchtlingsrates zur Aufnahme, Unterbringung und juristischen Betreuung von Flüchtlingen in Europa. Dies war ein Text, der schon in verschiedenen Fassungen vorlag. Und bei diesem Text spielte auch die Frage der Übersetzer, der Dolmetscher, eine ziemlich wichtige Rolle. Es ging darum, wie der Dolmetscher in einem Asylverfahren beschaffen sein muß, also in einem Verfahren, wo es anders als vor Gericht um Tod und Leben geht, um Anerkennung oder Abschiebung mit allen Konsequenzen. Wie muß die Figur des Dolmetschers aussehen, der der Bedeutung dieses Verfahrens gerecht wird, wenn man denn der Bedeutung dieses Verfahrens gerecht werden will? Ein solcher Dolmetscher, eine solche Dolmetscherin müssen zuerst einmal unparteiisch sein. Und das bedeutet zum Beispiel auch, daß sie unabhängig sein sollten. Daß sie nicht darauf achten müßten, wer sie finanziert. Aber auch die Vertrauensfrage, sie ist sehr gut angesprochen worden, sie stellt sich etwa, wenn ein türkischer Dolmetscher mit Hochtürkisch beim Asylverfahren eines kurdischen Asylbewerbers übersetzen soll. Ist er ein Kemalist? Ist es ein Linker? Ist das ein Freund der deutschen Abschiebepolitik? Wo ist die Loyalität dieses Dolmetschers? Das muß sich der Asylbewerber fragen. Das müssen sich aber auch die Anhörerin, der Anhörer fragen. Wo steht der Dolmetscher? Und hier gerät jede Dolmetscherin und jeder Dolmetscher in eine ganz schwierige Situation.

Nachdem ich länger darüber nachgedacht habe, komme ich zu einer ganz absurden Vorstellung. Vielleicht müßten es zwei sein. Einer auf der Seite des Asylbewerbers, der Asylbewerberin. Der andere auf der Seite des Anhörers oder der Anhörerin. Sie sehen, diese Problematik kann natürlich nicht gelöst werden mit dem, was bisher Praxis war. Die Frage der kurdischen Sprache in Bezug auf die türkische Hochsprache ist ja relativ leicht zu lösen. Denken Sie aber einmal an Stammesdialekte verschiedenster afrikanischer Länder!

Aber wenn ich, und hier komme ich auf die zentrale Frage, wenn ich den Flüchtling, den Asylbewerber, wenn ich jeden Angeklagten als wirkliches Rechtssubjekt betrachte, wenn das Verstehen dessen, was geschieht, zentrale Maßgabe des Rechtsstaates ist, dann wird das Übersetzen zu einer zentralen und in unserem Rechtsstaat nicht ausreichend gewürdigten Funktion.

Herr Vultejus hat die Frage der Kulturdifferenzierung sehr klar und überzeugend angesprochen. Bedenken Sie, aus welchen Rechtskulturen die verschiedenen Menschen kommen. Kommen Sie aus einer matriarchalischen Kultur? Kommen sie aus einer patriarchalischen Rechtspflege? Sind sie vom Stammesdenken geprägt? Kommen sie mit der Vorstellung, daß die familiale Struktur die entscheidende Rechtsstruktur ist? Kommen sie mit Vorstellungen des islamischen Rechts? Die kulturellen Differenzierungen des Menschen, der sich darauf eingelassen hat, in Deutschland Asyl zu suchen, müßten mehr berücksichtigt werden.

Wenn ich noch etwas ergänzen darf. Der Flüchtling, soweit ich ihn kennengelernt habe, und ich denke auch an die Menschen, mit denen ich befreundet bin, sie stammen aus verschiedensten Kulturen und Ländern. Sie sind in unser Land gekommen mit einem großen Vertrauen auf den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Sie haben durchaus ein sehr tiefes Verständnis von Menschenwürde und davon, wie diese Menschenwürde auch bei ihnen verletzt wird oder respektiert werden müßte. Das heißt, bei aller Kulturdifferenzierung haben diese Menschen durchaus ein ganz klares, eindeutiges Verhältnis zu dem, was Menschenwürde und was Verletzung der Menschenwürde ist. Vieles von dem, was nach der Anhörung mit ihnen geschieht, können sie in ihren Verstehenshorizont nicht mehr einordnen. Vielleicht haben sie das Glück, eine Rechtsanwältin und einen Rechtsanwalt zu finden, die, was man nicht erwarten kann, unter Umständen in ihrer Finanzierung nicht unbedingt die erste Priorität sehen. Ich habe den höchsten Respekt vor dem, was an Rechtsschutz über ungezählte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Rechtsberaterinnen und Rechtsberater. auch über Richterinnen und Richter erreicht wurde. Dabei konnte ich feststellen, daß bei aller Abwehrpolitik in Deutschland, die Rechtspflege u.U. mehr herausgeholt hat, als in den Gesetzen steckte. Und das hat dazu geführt, die Rechtspflege, die Gerichte und die Anwälte durch beschleunigte Verfahren von ihrer genuinen rechtsstaatlichen Funktion möglichst wegzudrängen. Das ist ja interessanterweise im Asylbereich exemplarisch durchgespielt worden. Es wird, wie ich das heute bei der Diskussion herausgehört habe, jetzt auf andere Bereiche übertragen werden. Das ist eine ernste Herausforderung für unseren Rechtsstaat.


Diskussionsbeiträge auf der Tagung der Evangelischen Akademie Loccum 'Die Rechtssprache: Fachjargon und Herrschaftsinstrument' vom 30. Mai bis 1. Juni 1997