Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL

Stellungnahme zur Eröffnung der
Ausstellung im Niedersächsischen Landtag
"Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen"
am 14. Februar 1996

Das Spektrum der Trägerschaft für die Ausstellung "Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen" ist beeindruckend. Unabhängig von den Inhalten, die diese Ausstellung zu vermitteln sucht, ist dieser Aspekt sicher sowohl für Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen von Bedeutung. Es wird nämlich in ungewohnter Weise sichtbar, wie breit und tief das Engagement für Flüchtlinge in Niedersachsen ist. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, daß dieser Einsatz, den es in ähnlicher Weise in der ganzen Bundesrepublik gibt, ein Ruhmesblatt unser Gesellschaft ist, ein Ruhmesblatt umso mehr, als die große politische Linie seit Jahren - und nicht erst seit der Änderung des Grundrechts auf Asyl - auf einen Abbau der Solidarität mit Flüchtlingen, auf eine Einschränkung ihrer Rechte, ja sogar auf das Unterschreiten bisher gültiger sozialrechtlicher und rechtlicher Standards eingestellt ist. Die Ausstellung wird dies nachdrücklich und hoffentlich nachhaltig verdeutlichen.

Die Asylpolitik hat sich als ein Konfliktfeld erwiesen, in dem die staatlichen und kommunalen Interessen in unerhörter Weise mit den humanitären Prinzipien, auf denen unser Staatswesen beruht, kollidieren. Deswegen ist es eher überraschend und wohl erstmalig, daß eine Ausstellung der Asylsolidarität mit ungeschminkter Darstellung in einem Landtag gezeigt wird, in dem die großen Linien deutscher Politik nicht nur nachgezeichnet, sondern in gewissen Bereichen auch vorgezeichnet werden. Dieses Faktum deute ich so, daß die Kommunikation zwischen den Asylinitiativen und der Regierung - wenn auch schwer belastet - noch besteht. Und ich möchte an dieser Stelle an alle Beteiligten die Aufforderung richten, diese Verbindung keinesfalls abreißen zu lassen. Es wäre ein Schaden nicht nur für die Betroffenen Flüchtlinge sondern auch für das Land wenn nicht gar für den Bund.

In meiner Arbeit auf europäischer Ebene fällt mir auf, daß es nicht nur überall Flüchtlingsräte und vergleichbare Asylorganisationen wie in der Bundesrepublik gibt, sondern daß diese ein wesentlich besseres Verhältnis zu ihren Regierungen haben, als dies bei uns auf Bundesebene besteht. In den skandinavischen Ländern, aber auch Ländern wie Großbritannien, Holland, Belgien und der Schweiz sind runde Tische und gemeinsame Konferenzen selbstverständlich, auch wenn die Politik in diesen Ländern sich der Tendenz nach nicht wesentlich von der deutschen unterscheidet. Dennoch gibt es noch einen irgendwie nützlichen Informationsaustausch. Die Vertreterinnen und Vertreter aus diesen Ländern sind immer wie-der überrascht zu hören, daß wir in der Bundesrepublik und ich spreche hier für PRO ASYL mit unserer Regierung nur über die Öffentlichkeit kommunizieren und diese Verbindung eher den Charakter der Konfrontation hat. Woran dies liegt, ist schwer zu sagen. Liegt es an einem selbstherrlichen Verständnis staatlicher Vollmacht in der Bundesrepublik, an einer besseren demokratischen Substanz in anderen europäischen Ländern, hat dort die Bürger- oder Zivilge-sellschaft einen anderen Rang? Es ist schwer zu sagen. Noch gibt es auf der Ebene einiger Bundesländer diesen für ein modernes Staatsverständnis notwendigen Kontakt. Sicher werden auch wir überlegen müssen, was wir in Sachen echter Lobbyarbeit bei Regierung und Parlamenten besser machen können. Allerdings müssen Regierung und Parlamentsmehrheiten auch eine größere Frustrationstoleranz aufweisen, wenn es um die Kritik an ihren Entscheidungen geht.

Um noch einmal auf die europäische Ebene zu kommen. Die Asylpolitik wird nicht in Nieder-sachsen gemacht, nicht einmal in Bonn, Den Haag oder Stockholm. Die Asylpolitik ist längst auf mehr oder weniger verschlungenen Pfade eine Sache der Europäischen Union oder zwi-schenstaatlicher Verträge. Das Europäische Parlament, das in der Asyl- und Migrationspolitik unseren Vorstellungen nahesteht, tut dies offensichtlich in dem Maße, wie es für die wirkli-chen politischen Entscheidungen relativ bedeutungslos ist. Asylpolitik wird in zahllosen, vom Parlament und der Öffentlichkeit unkontrollierbaren Gremien gemacht...

Der Bayerische Innenminister Günther Beckstein ist im Sommer 1995 mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten, der Bundesgesetzgeber solle den Großkirchen die Möglichkeit einräumen, für rechtskräftig abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber eine Aufenthaltserlaubnis zu erwirken. Dem jeweiligen Wunsch der Kirchen möge bundesweit in einer Größenordnung bis zu 1000 Fällen seitens der Landesregierungen entsprochen werden. Entscheidender Punkt bei diesem Verfahren wäre allerdings die Bereitschaft der Kirche(n), die vollen Kosten und zwar ohne zeitliche Befristung für den Aufenthalt solcher Kontingentausländer zu übernehmen.

Man kann in diesem Vorschlag das indirekte Eingeständnis sehen, daß das neue Asylrecht dem humanitären Anspruch unseres Staates weithin nicht mehr genügt. Der Kontingentvorschlag steht im Zusammenhang mit der Privatisierungsdebatte und der staatlichen Deregulierung im sozialen Bereich. Es könnte darum gehen, daß der Staat sich aus dem Asylbereich zurückzieht und ihn zu privatisieren beginnt.

Es geht dabei - vielleicht sogar vorrangig - um die spezifische Rolle, die die Bürgerrechtsbewegung im heutigen Staat angesichts neuer gesellschaftlicher Verwerfungen zu spielen hat. Bisher versteht sie sich nämlich vom Grundsatz her nicht als Kompensation für fehlendes staatliches Handeln geschweige denn als verlängerter Arm des Staates. Vielmehr soll der Staat mit seinem behördlichen Handeln nachhaltig auf seine Aufgaben und deren ethische Grundlagen verwiesen werden. Würden sich die Kirchen - wie es sich jetzt in Bayern abzuzeichnen scheint - im Vollzug einer auch wie gearteten Kontingentregelung auf die soziale und finanzielle Begleitung einzelner Fälle einstellen, würden sie an dieser Stelle den bürgerrechtlichen und politischen Impetus verlieren.

Auch der sich demokratisch und sozialrechtlich verstehende Staat tendiert seit gewisser Zeit dahin, sich seiner sozialen Verpflichtungen immer mehr zu entledigen oder sie doch zu minimieren. Dabei gerät der Versuch die Interessen des Marktes und die soziale Daseinsvorsorge aufeinander abzustimmen stärker denn je aus der Balance. Die immer größere Abhängigkeit von den Standort- und Inverstionsentscheidungen transnationaler Konzerne macht jeden Staat allzu geneigt sein Handeln vorwiegend an ökonomischen Faktoren auszurichten. Der Weltsozialgipfel in Kopenhagen hat deutlich genug gezeigt, daß auch die westliche Staatengemeinschaft diesem Trend nichts Entscheidendes entgegenzusetzen hat. Ihr Versuch, dem Weltmarkt soziale Komponenten beizugeben, ist gescheitert. Gerade die Schwellenländer, die kaum Rücksichten auf soziale Belange nehmen, sahen in diesem Wunsch der Industrieländer nur ein imperialistisches und kolonialistisches Interesse.

Die Zwangsläufigkeit, mit der dieser Prozeß, macht den Staat immer anfälliger dafür, sich aus sozialen und humanitären Verpflichtungen zu lösen und die verbleibenden Aufgaben irgendwelchen Hilfsagenturen zu überlassen.

Beim Weltsozialgipfel hat das Forum der sogenannten Nichtregierungsorganisationen beachtlich an Bedeutung gewonnen. Diese Organisationen sehen sich wie nie zuvor von staatlichen Vertretern konsultiert. Durch ein geschicktes Lobbying mag es ihnen auch gelingen, die eine oder andere zentrale Forderung in Beschlußpapieren unterzubringen. Dieser Prozeß, der auch bei anderen Weltgipfeln schon länger im Gange ist, scheint den bürgerrechtlichen Organisationen - Beispiel Greenpeace - ein neues Gewicht zuweisen zu wollen. Der Staat sieht sich zunehmend außerstande seiner sozialen Aufgabenstellung nachzukommen. Die Bürgerrechtsbewegung könnte - zumindest einmal theoretisch gesehen - versucht sein, einzuspringen und bestimmte Aufgaben übernehmen zu wollen. Dies wäre aber nicht nur eine Überschätzung ihrer Kräfte und Möglichkeiten, sondern eher noch eine Fehleinschätzung ihrer Funktion. Es kann nicht darum gehen, dem Staat - bei aller Kritik an bisheriger Überregulierung - Aufgaben abzunehmen, die in seinen klassischen Bereich fallen. Die immer wichtiger werdende Aufgabe der bürgerrechtlichen Einflußnahme dürfte vielmehr darin bestehen, dafür Sorge zu tragen, daß der Staat tut, was des Staates ist. Vor allem muß verhindert werden, daß der Staat zu einer Agentur der internationalen Wirtschaft wird.

Mit dem Beginn der Fluchtbewegung aus Bosnien- Herzegowina wurde die Einführung des Visumszwanges verfügt und die Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend zur Privatsache erklärt. Flüchtlinge konnten nur dann ein Einreisevisum erhalten, wenn sich Privatpersonen oder Wohlfahrtseinrichtungen dazu bereit fanden, alle Kosten des gesamten Aufenthalts für Flüchtlinge zu übernehmen. Damals herrschte eine große Bereitschaft bedrohte Menschen aufzunehmen. Die Bundesregierung nutzte die öffentliche Stimmungslage, um ein sicher schon länger gehegtes Konzept in die Tat umzusetzen. Damit wurde - ohne Diskussion!- die Flüchtlingspolitik in ein System eingefügt, daß sein Ziel in der weitgehenden Privatisierung bisher staatlicher Aufgaben sieht.

Das Engagement von einzelnen oder von Gruppen gegenüber Flüchtlingen bleibt immer erforderlich, selbst dann, wenn Staat und Behörden ihren von der Verfassung genormten Verpflichtungen nachzukommen trachten. Vieles - gerade auch im zwi-schenmenschlichen Bereich - ist von Amts wegen nicht leistbar und ruft nach der pri-vaten Initiative. Dies gilt erst recht, wenn die öffentliche Seite hinter ihren Aufgaben zurückbleibt oder sie konterkariert. Ungezählte Gruppen, Gemeinden und Einzelper-sonen haben in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Einsatz gegenüber Flüchtlingen geleistet. Das Bewußtsein als Bürgerin und Bürger in einer eigenständigen Kompetenz zu agieren, muß dabei bestimmend bleiben. Diese Zuständigkeit ist vorstaatlich und unterliegt damit weder einer staatlichen Reglementierung noch einer Instrumentalisierung. Dennoch bleibt immer ein politischer Bezug. Es geht darum, die Öffentlichkeit, die Politik ggf. auch die Gesetzgebung so zu beeinflussen, daß alle Instanzen ihren richtigen Part spielen und sich nicht von ihren sozialethischen und - rechtlichen Verpflichtungen verabschieden.

Genau dies findet in der Bundesrepublik statt. Dabei ist die rigorose Abschottungs- und Abschiebepolitik Ausdruck eines politischen Dilemmas, das wieder auf einen tieferen Zusammenhang verweist. Deuschland will kein Einwanderungsland sein. Die dauernde Aufnahme von Flüchtlingen in größeren Zahlen widerspricht dieser politischen Zielvorgabe. Angesichts der Krisenlage in den Herkunftsgebieten der Flücht-linge ist mit deren baldiger Rückkehr nicht zu rechnen. Dies hat sich besonders deutlich an Bosnien-Herzegowina gezeigt. Je länger eine Krise dauert, um so eher wird aus der Flüchtlingsaufnahme und dies ganz zwangsläufig - eine indirekte Einwanderung. Sie nach Jahren - gerade auch dann, wenn es um Kinder geht - durch Rückwanderung oder Abschiebung wieder rückgängig machen zu wollen, ist weder bei den Betroffenen noch in ihrer Umgebung durchsetzbar. In dem Zielkonflikt, daß die Bundesrepublik kein Einwanderungsland ist (eine Vorstellung, die völlig unrealistisch ist), andererseits Flüchtlinge, die möglicherweise auf diese Weise einwandern, aufgenommen werden müssen, entscheidet sich der Staat gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und damit gegen eines seiner entscheidenden moralischen Prinzipien.

Die Neubewertung - genauer gesagt die Unterbewertung des Ökonomischen und Sozialen im Hinblick auf weltwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit ist die besondere Herausforderung für die Bürgerrechtsbewegung. Sie ist vorwiegend in einem Aufbäumen dagegen zu sehen, daß sich der Staat im Rahmen der Deregulierung und Privatisierung von einer seiner wichtigen sozialen Aufgaben und zwar durch Abschottung oder durch Verlagerung zurückzieht.