ARCHIV - ASYL

TAG DES FLÜCHTLINGS 1994

 

 

Die Kurdenfrage in der Bundesrepublik
Populismus statt Minderheitenpolitik

Herben Leuninger

Nach den Autobahnblockaden und Selbstverbrennungen der Kurden gaben sich Bund und Länder erstaunt. Mit der Gewalt, die mit den Demonstrationen verbunden war, wollten sie nicht gerechnet haben. Dabei war Bonn gewarnt. Menschenrechtsorganisationen hatten über vertrauliche Kanäle auf eine absehbare Eskalation zum Newroz-Fest hingewiesen. Diese Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Auch die Vorschläge, vor diesem Termin ein deutliches Signal der Solidarität mit den Kurden in der Türkei und in der Bundesrepublik zu setzen. Die Kurden insgesamt - und nicht nur die gewaltbereite PKK - mußten tief enttäuscht über den Schmusekurs Bonns mit Ankara sein, einen Kurs, der mit Waffen und Rüstungsgütern abgesteckt ist.

Aber weder die Türkei noch die Bundesrepublik sind bisher in der Lage, mit Minderheiten gemäß internationaler Standards umzugehen. So ist es eine absolute Fehleinschätzung, wenn sich Kohl der offiziellen Lesart seiner Kollegin Ciller anschließt, es gehe bei den Kurden in erster Linie um die Bekämpfung von Terrorismus. Bonn hat bisher kein wirkliches Verständnis für Minderheiten an den Tag gelegt. Seit vielen Jahren gibt es in Deutschland eine kurdische Bevölkerung von nahezu einer halben Million. Diese wird als solche erst seit dem Verbot der PKK und den Ausschreitungen wirklich zur Kenntnis genommen. Dabei geht es bei ihr mehrheitlich um Menschen, die im Rahmen der Anwerbung türkischer Arbeiterinnen und Arbeiter nach Deutschland kamen und als höchst friedliche Migranten ansässig geworden sind. Zehntausende Kurden sind in den späteren Jahren vor dem Terror des türkischen Militärs nach Deutschland geflüchtet. Dort leben ihre Verwandten, Nachbarn und Landsleute. Politische oder kulturelle Minderheitenrechte wie etwa Unterricht in der Muttersprache haben diese allerdings nicht. Auch eine vernünftige politische Mitwirkung ist ihnen ebenso wie den anderen Einwanderern bisher versagt worden. Dahinter steht die offizielle Doktrin, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Es wird immer noch von Gästen gesprochen, die sich demgemäß zu verhalten hätten. Dabei könnte die Bundesrepublik zeigen, wie eine Demokratie ethnische Gruppen respektiert, ohne gleich um den nationalen Bestand zu fürchten.

Die Kurden werden sich durch die türkische Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik ihrer Identität immer bewußter. Das zeigt sich in ihren Heimatländern, aber auch in der Bundesrepublik. Dabei sind die Chancen einer friedlichen Konfliktlösung so gut wie verspielt. Die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK, die auf eine kriegerische Auseinandersetzung und auf Terror setzt, betrachtet Europa, vor allem auch Deutschland als Operationsbasis. Dagegen wehrt sich die Bundesrepublik mit Recht, allerdings mit den falschen Mitteln. Dazu zählen nicht nur Waffenlieferungen an die Türkei, sondern vor allem auch das Verbot der PKK, das von Ankara als wichtige Unterstützung seiner Kurdenpolitik betrachtet wurde.

Leider tun Kohl und Kanther derzeit alles, um die Kurden in die Arme der PKK zu treiben. Dabei schlägt der Kurden-raus-Populismus regelrecht Kapriolen: Zuerst stellt Kanther sich mit der versteinerten Miene eines türkischen Generals vor die Kameras und fordert verschärfte Gesetze, um gewalttätig gewordene Kurden schneller ausweisen zu können. Er und seinesgleichen haben ein sehr seltsames Verständnis vom Rechtsstaat, als liege seine Bedeutung nicht in der Kontinuität und Berechenbarkeit, sondern in der Fähigkeit sofortiger Anpassung an die Stimmungslage in der Bevölkerung. Als diese Idee in der Öffentlichkeit nicht auf das erwartete Echo stößt, wartet das Haus Kanthers mit der Idee von einer Art gläserner Gefängnisse in der Türkei auf. Dort sollten abgeschobene Kurden so untergebracht werden, daß leichter zu überprüfen ist, ob wirklich auch nicht gefoltert wird. Es ist fern jeder Realität, Inseln der Rechtsstaatlichkeit in einem Meer von Menschenrechtsverletzungen schaffen zu wollen. Jetzt geht es um ein bilaterales Abkommen, bei dem Ankara zusagt, nicht zu foltern und keine Todesstrafe zu verhängen. Da die Türkei dem bereitwillig zugestimmt hat, sieht Bayerns Innenminister Günther Beckstein sich bereits legitimiert, Sofortabschiebungen vorzunehmen. Es zeichnet sich eine furchterregende Komplizenschaft ab, wiederum auf Kosten unseres Rechtsstaates.

Die Bonner Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat gezeigt, wie mit einem Staat umzugehen ist, der die Menschenrechte verletzt. Sie las dem aus Peking angereisten Kollegen bei einer Tischrede die Leviten. Dem gefror das traditionelle Lächeln im Gesicht. Durch die Unterdrückung der Opposition in China werde die seit Jahren gewachsene Basis eines außergewöhnlichen Vertrauens erheblich gefährdet, sagte die Ministerin. Bonn gebärdete sich an dieser Stelle so ungewohnt deutlich, weil es der amerikanische Außenminister Warren Christopher bei seinem China-Besuch Mitte März vorgemacht hatte. Dabei nahm er die Kritik amerikanischer Wirtschaftsbosse in Kauf.

Man stelle sich vor, Kohl hätte mit der türkischen Regierungschefin bei ihrem letzten Besuch in Bonn ähnlich Tacheles geredet und ein Waffenembargo verkündet. Vermutlich wären sowohl die Demonstrationen wie auch die strafbaren Ausschreitungen ausgeblieben.