Herbert Leuninger

ARCHIV ASYL
1992

Fluchtburg oder Festung
Was bringt Europa 1993?
Perspektiven der Weiterarbeit
Beitrag zur Tagung vom 8. bis 10. Mai 1992
in der Evangelischen Akademie &xnbsp;Nordelbien, Bad Segeberg

INHALT
Die Bundesrepublik hat die bleibende historische Verantwortung, nicht nur für die eigene Republik, sondern für Europa und letztlich für die ganze Staatengemeinschaft das Recht auf Asyl als Menschenrecht durchsetzen zu helfen.


60 Minuten lang legt uns der sozialdemokratische Innenminister von Schleswig-Holstein, Hans-Peter Bull eine asylsoziologische und asylpolitische Analyse vor, wie ich sie in den letzten Jahren von keinem der führenden Politiker vernommen habe. Sie beruhte auf dem gemeinsamen Fundament der Demokraten und entsprach weitgehend sozialdemokratischer, christlicher, christlich-sozialer, liberaler und grüner Programmatik. Es war eigentlich eine das Plenum bestärkende Rede, die nachdenklich aufgenommen wurde.

Dann aber wechselt der Minister abrupt und unvermittelt die Diskursebene und versucht vor dem gleichen Publikum das neue Asylverfahrensgesetz zu rechtfertigen und zwar, wie es der spätere Diskussionsverlauf und auch der am nächsten Morgen in brutaler Deutlichkeit zeigte, auf dem Legitimationsniveau des Stammtisches.

Ich denke, jedem von uns, außer vielleicht dem Minister wenigstens dem äußeren Anschein nach, ist hier der Bruch deutlich geworden, der die Bürgerinnen und Bürger aus dem Bereich der Solidarität mit Flüchtlingen von der politischen Klasse dieser Republik trennt. Ich halte diesen Bruch für so tiefreichend, daß er mit den normalen Möglichkeiten politischer Auseinandersetzung, Verständigung und Intervention nicht mehr gekittet werden kann.

Anders formuliert: Unsere Demokratie und unser Parlamentarismus ist so heruntergewirtschaftet, daß in der Asylpolitik kaum etwas anderes herauskommen kann als dieses unsägliche Asylverfahrensgesetz mit seinen Internierungslagern, Schnellverfahren und Deportationsmöglichkeiten.

PRO ASYL hat im Hintergrund dazu beigetragen, vielleicht sogar wesentlich, daß&xnbsp; wenigstens noch eine Anhörung über dieses Gesetz stattgefunden hat.

Wie Ihr wißt, war die fast einhellige Kritik der Experten unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit, ja sogar der Praktikabilität vernichtend. PRO ASYL hat in diesem Zusammenhang gefordert, den Entwurf aus dem Gesetzgebungsverfahren herauszunehmen, damit weder der Rechtsstaat noch die Flüchtlinge auf Dauer Schaden nehmen, aber auch deswegen, damit der Bundestag in seiner gesetzgeberischen Autorität nicht unnötig beeinträchtigt wird.

Der Verfall des Parlamentarismus konnte dann nicht deutlicher bestätigt werden als dadurch, daß sich Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) und die CDU/CSU durch diese Anhörung in ihrer Taktik bestätigt sahen, die SPD in der Asylfrage an die Wand zu drücken, und daß der Entwurf, in seiner Substanz unverändert, weiterhin zur parlamentarischen Entscheidung ansteht. Dabei geht es längst nicht mehr darum, ein Verfahren zu beschleunigen, sondern darum, die Verfassung zu ändern. Es gibt auch in dieser Frage keinen Gegensatz zwischen Regierungsparteien und Opposition mehr. Wir haben es vielmehr mit einer Großen Koalition zu tun.

Gefahr droht dem Artikel 16 des Grundgesetzes aber nicht nur durch die in diesem Zusammenhang immer wieder beschworene europäische Harmonisierung nach unten, sondern auch durch die an sich begrüßenswerten Bemühungen, wie sie gerade der Europa-Abgeordnete Detlef Samland (SPD) vorgelegt hat, bei denen es um eine Harmonisierung nach oben geht, d.h., um eine Harmonisierung, die Maß nimmt an dem einmaligen Rechtsstandard, der durch Art.16 Grundgesetz gesetzt wird, und mit dem ein gerichtlich überprüfbares Individualrecht auf Asyl deklariert wird. Dabei wird aber bereits in dieser Phase der politischen Diskussion Artikel 16 zur Disposition gestellt und zwar für den Fall, daß eine europäische Regelung den vollen Gehalt dieses Grundrechtes nicht garantiert.

Die eigentliche Bedeutung von Art. 16 in der Verfassung der Bundesrepublik ist die Tatsache, daß das Asylrecht von einem Staat als Menschenrecht erklärt wird. Dies ist der vielleicht wichtigste Beitrag, den das Nachkriegsdeutschland&xnbsp; mit seinem Versuch aus der Barbarei des Nationalsozialismus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen, für die Völkergemeinschaft geleistet hat.

Die Bundesrepublik ist nämlich mit Artikel 16 eine entscheidende Dimension über das bereits bedeutsame Konzept der Einschränkung staatlicher Souveränität gegenüber Flüchtlingen durch die Genfer Flüchtlingskonvention hinausgelangt. Und dahinter darf es kein Zurück mehr geben. Oder anders gesagt: Die Bundesrepublik hat die bleibende historische Verantwortung, nicht nur für die eigene Republik, sondern für Europa und letztlich für die ganze Staatengemeinschaft das Recht auf Asyl als Menschenrecht durchsetzen zu helfen. Von dieser Verantwortung können uns auch noch so sympathische Holländer nicht entlasten.

Genau an diesem Punkt plant PRO ASYL eine Aktion zur Bewahrung des Art. 16 Grundgesetz auch im Hinblick auf eine künftige europäische Harmonisierung. Diese Aktion soll zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund durchgeführt werden.

Warum gerade mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund? Dieser hat eine glasklare, durch eine allzu differenzierte Juristen- und Politikdiskussion nicht aufgeweichte Grundposition und die entsprechende Beschlußlage, daß nämlich Art. 16 Grundgesetz nicht geändert werden darf. Dahinter steht bei den Gewerkschaften die Erinnerung an die nationalsozialistische, faschistische Vergangenheit, die die Gewerkschaftsbewegung ausgelöscht, vielen Gewerkschaftern den Tod gebracht und eine noch größere Anzahl zur Flucht gezwungen hat. Dahinter steht aber auch die Bereitschaft, von dieser Geschichte her Flüchtlinge auf der Basis unserer Verfassung zu schützen.

Seit dem Herbst des vergangenen Jahres, seit der Aggressionsseuche, die gegen Asylbewerber und „Fremde“ gerichtet war, hat sich die Gewerkschaftsbewegung mit ihren maßgeblichen Funktionsträgerinnen und&xnbsp; -trägern in einen Kampf gegen den neu entstehenden Faschismus und Rechtsextremismus eingeschaltet. Für PRO ASYL waren die wichtigsten Kontakte des letzten halben Jahres solche mit Gewerkschaften wie dem DGB, der IG-Metall, der GEW, der Postgewerkschaft und nicht zuletzt auch der Gewerkschaft der Polizei, entweder auf Bundes-, auf Bezirks-, oder auf Länderebene. Wenn es von den gesellschaftlichen Großorganisationen her für PRO ASYL einen Bündnispartner gibt, sind es nicht oder noch nicht die Kirchen (dies sage ich unbeschadet der Erfahrung, daß unzählige Menschen aus den Kirchen sich für Flüchtlinge einsetzen.)

Wir planen mit dem DGB zusammen die Herausgabe eines Faltblattes zur Verteidigung des Art. 16 Grundgesetz. Wir wollen dieses Faltblatt über das Verteilernetz des DGB, von PRO ASYL, der Flüchtlingsräte und der für uns erreichbaren Organisationen streuen. Die für diese Aktion notwendige Öffentlichkeit soll durch eine gemeinsame Pressekonferenz mit dem DGB hergestellt werden.

Unmittelbare politische Zielsetzung ist eine die in der SPD immer noch vorhandene Diskussionslage zugunsten Art. 16&xnbsp; zu beeinflussen und die Plausibilität – wie sie sich in der Parteispitze eingenistet hat – zu beeinträchtigen. Positiv gesehen geht es darum, die SPD-Kreise die nach wie vor Art. 16&xnbsp; Grundgesetz verteidigen und den Gewerkschaften nahe stehen, zu bestärken. Im Blick haben wir vor allem SPD-Mitglieder, die vielleicht ähnlich denken wie Innenminister Bull, die es aber noch nicht aufgegeben haben, auch entsprechend zu handeln.

Insgesamt bin ich der Auffassung, daß eine solche Aktion nicht nur wichtig&xnbsp; ist für den weiteren Schutz der Flüchtlinge, sondern auch für unsere Verfassung, für unsere Republik, und vor allem auch für die&xnbsp; Auseinandersetzung mit der weiterhin zu befürchtenden Fremdenfeindlichkeit.&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp; &xnbsp;


Faltblatt zu Artikel 16 Grundgesetz

Ist die Katastrophe auf dem Balkan auch eine Katastrophe für
das Asylrecht? Die Flucht und Vertreibung von Millionen Men-
schen hat die internationale Gemeinschaft vor eine humanitäre
Herausforderung gestellt, der sie sich kaum gewachsen zeigt.
Die Flüchtlingshochkommissarin muß die europäischen Regierungen
bitten und betteln, ihr das notwendige Geld zur Versorgung Hun-
derttausender Flüchtlinge in der unmittelbaren Nachbarregion zu
geben. Mit einer Verteilung von Flüchtlingen auf die Staaten
Europas scheitert sie vollends. Es wird in drastischer Weise
deutlich, daß die Genfer Flüchtlingskonvention offenbar den
neuen Härtetest bei der Massenflucht aus einem Kriegsgebiet
nicht bestanden hat. Die Aufnahme dieser Flüchtlinge kann nur
humanitär nicht aber rechtlich angemahnt werden.

Deutschland hat dabei wieder eine äußerst bedenkliche Vorrei-
terrolle gespielt, in dem es als erstes Land den Visa-Zwang für
Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina eingeführt hat. Flüchtlinge
wurden nur noch per Ausnahme aufgenommen, wenn Privatpersonen,
kirchliche oder humanitäre Organisationen Unterbringung und
Versorgung übernahmen. Ein gefährlicher Trend zur Privatisie-
rung staatlicher Aufgaben setzte sich damit durch. Als sich in
der Bevölkerung eine überraschende Bereitschaft zur Aufnahme
von Balkan-Flüchtlingen abzeichnete, kamen Bund und Länder
nicht daran vorbei, in begrenzten Aufnahmeaktionen Flüchtlinge
in die Bundesrepublik zu holen. Das war, man darf es nicht ver-
gessen, ein "Gnadenakt", der im § 32 Ausländergesetz vorgese-
hen war.

Diese Entwicklung muß sehr sorgfältig beachtet werden: Privati-
sierung des Schutzes von Flüchtlingen auf der einen Seite,
staatlicher Gnadenerweis auf der anderen Seite. Wir entfernen
uns immer mehr - national und international - davon, das Men-
schenrecht auf Leben und die Unversehrtheit der Person - bei
Kriegsflüchtlingen eminent bedroht - bedingungslos und per
Rechtsanspruch zu respektieren und zu garantieren.

Ein Fels in der Brandung ist nach wie vor Artikel 16 Grundge-
setz mit seinem individuellen Recht auf Asyl. Ihn gilt es als
große Errungenschaft der Nachkriegsära zu erhalten, um irgend-
wann einen Rechtsanspruch nicht nur auf Flucht vor politischer
Verfolgung im Sinne staatlicher Verfolgung durchzusetzen, son-
dern auch den auf Rettung vor Vernichtung und Massakrierung.