Herbert Leuninger ARCHIV ASYL

KOMMENTAR
Nur Aussiedler sind willkommene Fremde

INHALT

  • Die Politiker geben ein Lehrbeispiel dafür, was sie tun könnten, um in der Bevölkerung nicht nur für Aussiedler eine positive Stimmung für eine große humanitäre Aufgabe zu erzeugen.


Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher rufen zu nationaler Solidarität auf. Kohl bezeichnet Klagen über den Zustrom als beschämend. Wer erinnert daran, wie nach Kriegsende bis 1955 mehr als dreizehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in die Bundesrepublik aufgenommen worden seien. Im Rahmen des Lastenausgleichs wären 150 Milliarden Mark dafür aufgebracht worden. Genscher warnte davor, zusätzlich zu der Mauer in Berlin jetzt noch eine Mauer der Gefühlskälte und des Egoismus zu errichten. Wir bräuchten eine große Bürgerinitiative der Menschlichkeit, der Solidarität und der Nächstenliebe.

Kohl zeigt sich davon überzeugt, daß wenn wir zusammenhielten, wenn Bund, Länder und Gemeinden, die Kirchen und die sozialen Organisationen jetzt helfen würden, daß diese Menschen, die zu uns kommen, eine neue Heimat finden, müsse es doch gelingen. Bundesfamilienministerin Rita Süßmuth regt an, Partnerschaften zu übernehmen und die Häuser zu öffnen. Der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Paul Hoffacker erklärt sich für seine Familie bereit, eine solche Patenschaft zu übernehmen. Milliarden sollen zur Verfügung gestellt werden, um 30.0000 Wohnungen zu bauen. Dazu kommen Mittel für Eingliederung und die Schaffung von Arbeitsplätzen.

SPD-Chef Vogel sagt in Friedland, das ganze Volk müsse den Landsleuten aus dem Osten mit Hilfsbereitschaft und offenen Armen begegnen.

Denn es geht bei diesen Appellen für die Aussiedler um die Erwartung, daß in diesem Jahr etwa 200.000 Menschen, die sich als Deutsche fühlen, aus Osteuropa in die Bundesrepublik kommen. Mit diesen Zahlen hatte niemand gerechnet.

Diese politische Aktion ist beispiellos in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik und sicher auch beispielhaft für die Zukunft. Politiker, die sonst sorgsam fremdenfeindliche Strömungen beachten und sogar in Wahlkämpfen für ihre Zwecke einkalkulieren, stellen sich mit dem ganzen Einfluß ihres Amtes und ihrer Person an die Spitze einer Aktion, die von den Bundesbürgern ein beachtliches Maß von Aufnahme- und Finanzierungsbereitschaft verlangt.

Gewohnt ist man andere Töne gegenüber Menschen, die etwa im Rahmen der Familienzusammenführung oder als Flüchtlinge in die Bundesrepublik kommen. Da herrschen abwehrende, herabsetzende, warnende, auf die leeren Kassen hinweisende, die überbevölkerte Bundesrepublik beschwörende Argumente vor. Nichts von alledem jetzt.

Die Politiker geben ein Lehrbeispiel dafür, was sie tun können, um in der Bevölkerung eine positive Stimmung für eine große humanitäre Aufgabe zu erzeugen. Und eine solche große Aufgabe ist sicher die Aufnahme der Einwanderer aus Osteuropa. Die rechtliche Begründung wird im Artikel 116 des Grundgesetzes gesehen. Dieser wurde später durch ein einfaches Gesetz interpretiert. Demgemäß gelten als Deutsche, die als Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit, die Sowjetunion, Polen, die CSSR, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Albanien oder China verlassen haben. Die Auslegung von Artikel 116 GG ist großzügig.

Es ist zu begrüßen, daß die Bundesrepublik Menschen, die sich als Minderheiten im Herkunftsstaat fühlen und eine bessere Zukunft in der Bundesrepublik erhoffen, diese grundgesetzliche Zugangsmöglichkeit haben. Ihr Kommen ist sowohl ein Zeichen für die Liberalisierung östlicher Politik als auch für das Wirtschaftsgefälle zwischen den Herkunftsländern und der Bundesrepublik. Vielleicht gelingt es diesen Ländern auch nicht, ihren ethnischen Minderheiten ausreichende Rechte zu gewähren.

Alle, die sich für Flüchtlinge einsetzen, müssen sich angesichts der neuen politischen Vorgaben für die Aussiedler ungläubig die Augen reiben. Denn das, was die Politiker jetzt für diese Einwanderer fordern, wurde in ähnlicher, fast wortgleicher Form von verschiedenster Seite für die Flüchtlinge gefordert und zwar auch auf dem Hintergrund des Grundgesetzes. Dabei gehört Artikel 16, der unter den Grundrechten aufgeführt wird, zum Kernbestand unserer Verfassung.

Der politische Einsatz für die Aussiedler setzt einen Standard dafür, wie ernst das Grundgesetz zu nehmen ist und welche Behandlung Menschen erwarten dürfen, denen das Grundgesetz den Zugang zur Bundesrepublik ermöglicht. Ohne nun den Auswanderungsdruck der Aussiedler zu unterschätzen, muß man doch davon ausgehen, daß die übergroße Mehrheit der Asylbewerber aus Kriegs-, Bürgerkriegs- und Krisengebieten in die Bundesrepublik kommt. Ihre Schutzwürdigkeit hat einen sehr hohen Rang. Auch hier wäre eine politische Aktion ähnlichen Stils erforderlich und sicher möglich.

Soweit sich aber mit der Aktion für die Aussiedler ein biologistischer Chauvinismus durchsetzt, sind die Chancen für eine verfassungsgemäße Asylpolitik nach wie vor schlecht.

veröffentlicht in:
SOZIAL EXTRA
Magazin für soziale Arbeit
November/Dezember 1988, S.2