ARCHIV

TAG DES FLÜCHTLINGS 1988


Herbert Leuninger

Offene Grenzen oder ein neuer Flüchtlingsbegriff?

veröffentlicht in: PRO ASYL (Hrsg.), Zuflucht gewähren, Materialheft zum Tag des Flüchtlings 1988, 6-8

1. Flörsheim

Vor Weihnachten haben das 10jährige eritreische Mädchen Senait und seine Großmutter die Mitteilung der Ausländerbehörde des Main Taunus‑Kreises erhalten, daß ihr Asylantrag abgelehnt sei und sie bis 16. Januar auszureisen hätten. Dieses Schreiben löste in der Riedschule von Flörsheim am Main, die Senait seit anderthalb Jahren besucht, einen Sturm der Entrüstung aus. Kollegium, Elternbeirat und Eltern der Grundschule richten ein Schreiben an den zuständigen Landrat, von einer Abschiebung abzusehen. Die Zeitungen schalten sich ein. Eine ungeahnte Welle der Solidarisierung setzt in der Kleinstadt ein, geht auf den Kreis über, erfaßt Initiativen, Politiker und Kirchen. Fürbittgottesdienste werden gehalten, Unterschriftenlisten kursieren, Rundfunk und Fernsehen berichten. Schließlich befaßt sich nach dem Kreistag auch der Hessische Landtag mit der Angelegenheit. Der lnnenminister nimmt Stellung.

Man darf ziemlich sicher sein, daß Senait nicht abgeschoben wird. Dies könnte sich kein Politiker in Hessen mehr erlauben. Mitmenschlichkeit hat die Angelegenheit zu einem Politikum werden lassen. Ein klassischer Erfolg von Solidarisierung.

Der Vorgang ist vielschichtig und für zahllose ähnliche Solidarisierungen in der Bundesrepublik kennzeichnend. Die restriktive Asylpolitik stößt an ihre Grenzen, Grenzen, mit denen konservative Politiker nicht gerechnet haben, die sie mittlerweile aber offensichtlich einkalkulieren und in Zukunft noch stärker einkalkulieren müssen. Es scheint sich ein menschen‑ und situationsnäheres Asylverständnis zu entwickeln. Der Ansatz ist individualistisch und kommt aus einer persönlichen Betroffenheit über das Einzelschicksal von Flüchtlingen. Das emotional bedingte und ethisch fundierte Bedürfnis, Schutz zu gewähren, führt vom Einzelfall her zu Bewußtseinsveränderungen, die im Rahmen öffentlicher Resonanz politisch bedeutsam werden können. Inhaltlich geht die Bereitschaft, Flüchtlinge ‑ unter Umständen bis zum Verstecken ‑ vor Abschiebung zu bewahren, weit über den vorn Grundgesetz garantierten Schutz für den politischen Flüchtling und auch über den der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus.

Es geht um nichts anderes als um die Frage, ob de‑facto‑Flüchtlinge, also Asylbewerber, deren Antrag rechtskräftig abgelehnt wurde, aus humanitären Gründen nicht in ihre Heimat abgeschoben werden, weil diese als ein Krisen‑,Kriegs‑ oder Bürgerkriegsgebiet anzusehen ist. Sind diese Menschen nun die „Wirtschaftsflüchtlinge" des Bundesinnenministers, die verstärkt abgeschoben werden sollten, oder Menschen, die in einem erweiterten Sinne als schutzwürdige Flüchtlinge gelten müssen? Diese Frage stellt sich nicht nur angesichts einer immer restriktiveren Spruchpraxis über Asylgesuche und einer auf die europäische Ebene verlagerten Abschottungspolitik, sondern auch angesichts der gewandelten politischen Verhältnisse in der Welt und eines tieferen Einblicks in die komplexen Ursachen von Fluchtbewegungen.

Die Diskussion über eine Erweiterung und Vertiefung der Definition des Flüchtlings ist überfällig und bei genauerem Zusehen längst im Gange. Ja, sie hat bereits zu theoretischen und politischen Ergebnissen geführt, deren allgemeine Übertragung auf die Ebene der Vereinten Nationen noch aussteht. Dabei darf man sich durch die notwendige Verteidigung der durch das Grundgesetz und die Genfer Konvention erreichten Standards nicht dazu verleiten lassen, weitergehende Erfordernisse als illusionär und utopisch einzuordnen. Dies könnte eher für die durchaus respektablen Vorstellungen gelten, die unter dem Motto „offene Grenzen" prinzipiell allen Menschen, die legitime Gründe haben, in die Bundesrepublik zu kommen, dort auch ein Bleiberecht einräumen. Zu Unrecht, aber mit Sicherheit wird damit all denen Wasser auf die Mühlen geleitet, die den Wahn nähren, aufgrund von Artikel 16 Grundgesetz hätten Milliarden Menschen in der Welt einen Anspruch, in die Bundesrepublik zu kommen, um auf Kosten des Steuerzahlers besser als in ihrer Heimat zu leben.

2. Saulgau

Die Konferenz der Innenminister vom Oktober 1986 in Saulgau hatte das politische Startzeichen für die Diskussion um die de‑facto‑Flüchtlinge gegeben. Damals waren die Minister darin übereingekommen, daß Abschiebungen grundsätzlich auch in Krisengebiete stattfinden könnten. Die Einstufung als Krisengebiete und deren Aufhebung sollten nach Möglichkeit einheitlich zwischen Bund und Ländern erfolgen. Die Innenminister der SPD-regierten Länder haben sich im Nachhinein von diesem Beschluß distanziert, bzw. ihm eine andere Interpretation als die CDU‑Innenminister gegeben. Minister Schnoor von Nordrhein-Westfalen hatte seinem bayerischen Kollegen Hillermeier einen vierseitigen Brief geschrieben und den Konferenzbeschluß wegen unüberbrückbarer Gegensätze als Formelkompromiß bezeichnet. Die CDU‑Kollegen hätten Abschiebungen in Krisengebiete nur dann ausschließen wollen, wenn dem betroffenen Ausländer in seinem Heimatland Gefahren drohen würden, die wesentlich über das Maß dessen hinausgingen, was in einem Staat allgemein zu erdulden sei. Dagegen hätten die SPD-Kollegen nur dann eine Ausnahme von dem zwingenden Abschiebehindernis zulassen wollen,‑„wenn die Angehörigen der ethnischen, religiösen oder sonstigen besonderen Bevölkerungsgruppen, der der Abzuschiebende angehört, in ihrem Siedlungsgebiet relativ sicher sind und der abzuschiebende Ausländer dieses Siedlungsgebiet ohne wesentliche Gefährdung erreichen kann oder wenn als Krisengebiet nur ein Teil des Heimatlandes anzusehen ist und eine Abschiebung in den übrigen Teil dieses Staates ohne wesentliche Gefährdung möglich ist.“

Ob diese Einschränkungen der SPD zum Schutze der de‑facto‑Flüchtlinge ausreichend sind, mag an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Auf jeden Fall wird viel davon abhängen, wie Krisengebiete oder die relative Sicherheit in einem Siedlungsgebiet von der Bundesrepublik aus eingestuft werden.

3. Straßburg

Wichtiger als diese interne Diskussion, von der die Öffentlichkeit bisher keine Notiz genommen hat ‑ der Brief an Hillermeier war einem Schreiben des Ministers an eine engagierte Dame beigefügt ‑, ist vielleicht die Diskussion, die durch das Europäische Parlament in Straßburg angestoßen wurde: die Diskussion um einen erweiterten Flüchtlingsbegriff. Das Parlament hatte in seiner Entschließung zu den Fragen des Asylrechts vorn 12. 3. 1957 darauf hingewiesen, daß sich die Ursachen für Flucht seit Abschluß der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verändert hätten und die Definition des Flüchtlingsbegriffs daher einem Wandel unterliegen müsse. Deswegen sollte die Europäische Gemeinschaft die Initiative zur Ausarbeitung eines Vorschlages einer neuen Definition des Flüchtlingsbegriffs ergreifen. Im Entwurf war noch ein ausdrücklicher Hinweis auf die Flüchtlingsdefinition der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) enthalten. Im endgültigen Beschluß ist nunmehr die Rede davon, daß eine neue Definition auf der Grundlage insbesondere der Genfer Konvention und der Verfassungen der Mitgliedsstaaten ausgearbeitet werden solle.

4. Afrika

Der erweiterte Flüchtlingsbegriff der OAU stammt bereits aus dem Jahre 1969 und ist geprägt von den Fluchtbewegungen des afrikanischen Kontinents. Der Begriff des Flüchtlings soll nach der OAU‑Konvention über die Genfer Konvention hinaus „auf jede Person Anwendung finden, die wegen Aggression von außen, Besetzung, Fremdherrschaft oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil des Landes oder dem gesamten Land ernsthaft stören, gezwungen ist, den Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu verlassen, um an einem anderen Ort außerhalb ihrer Herkunft oder Staatsangehörigkeit Zuflucht zu suchen."

Entscheidend an dieser Umschreibung des Flüchtlings dürfte das erweiterte Verständnis von politischer Krise sein, die zur Flucht zwingt. Danach sind Kriege, Bürgerkriege, ja sogar Stammesfehden, überhaupt bedeutsame Störungen der öffentlichen Ordnung hinreichend genug, um einen Menschen, der davor flüchtet, als Flüchtling anzusehen und zu schützen.

Wenn der Entwurf zur Asyl‑Entschließung des EG‑Parlaments noch davon spricht, daß die aktuellste und genaueste internationale Definition eines Flüchtlings die der OAU sei, wird es notwendig, diese aus ihrem afrikanischen Kontext zu lösen und ihr eine Allgemeingültigkeit zuzugestehen.

5. Cartagena

Im gewissen Sinne ist dies bereits geschehen, wenn man die sogenannte Erklärung von Cartagena aus dem Jahre 1984 anschaut. Vertreter von zehn lateinamerikanischen Regierungen hatten unter spezifischer Berücksichtigung der Probleme gerade der mittelamerikanischen Region zu einem Flüchtlingsbegriff gefunden, der dem der OAU sehr ähnlich ist. Danach sollen in die Definition eines Flüchtlings auch Menschen einbezogen werden, die „aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder ihre Freiheit bedroht waren von Gewalt im allgemeinen, Angriffen von außen, Konflikten im Land selbst, schweren Verletzungen der Menschenrechte oder anderen Umständen, durch die die öffentliche Ordnung gestört war. "

Wichtig an dieser Erklärung ist ihre inhaltliche Nähe zur OAU‑Resolution, insofern dies als Beleg dafür gelten kann, daß es bereits eine geistige und politische Kontinuität für einen erweiterten Flüchtlingsbegriff gibt und eine prinzipielle Übertragbarkeit auf eine andere Region mit anderen politischen Gegebenheiten durchaus möglich ist. Dies wäre bereits neben dem, was im Vorfeld der Erklärung des Europäischen Parlaments formuliert wurde, eine wichtige Voraussetzung für eine weltweite bzw. UN‑weite Übernahme. Davon abgesehen ist mit Cartagena erneut eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs vorgenommen worden, insofern anerkannt wird, daß schwere Verletzungen der Menschenrechte auch einen Flüchtlingsstatus begründen können.

6. Genf

Das Exekutivkomitee von UNHCR verabschiedete auf seiner 36. Sitzung eine Resolution zum Flüchtlingsproblem in Lateinamerika und zur Erklärung von Cartagena, die als ein regionaler Ansatz für die Lösung begrenzter Flüchtlingsströme begrüßt wurde.

Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat in einer Entschließung zur „Migration und zu Flüchtlingsbewegungen in Lateinamerika" vom 8. 5. 1987 „die Bedeutung der Prinzipien und Empfehlungen in der Erklärung von Cartagena aus dem Jahre 1984 zur Lösung der Flüchtlingsprobleme in Lateinamerika" betont. In beiden Fällen ist erkennbar, daß man noch sehr bemüht ist, Cartagena zwar in seiner grundsätzlichen Bedeutung zu erkennen und zu werten, daß aber gleichzeitig der Versuch unternommen wird, Cartagena zu „regionalisieren". Dies dürfte, wie die Entwicklung lehrt und die weltweiten Erfordernisse belegen, ein letztlich untauglicher Versuch sein, an einer neuen, universal gültigen Definition vorbeizukommen.

7. Flörsheim und Genf

Flörsheim liegt offensichtlich näher bei Cartagena als Genf!