Herbert Leuninger ARCHIV ASYL
1986

links
Sozialistische Zeitung
1986 (im 2. Halbjahr)

Zelte zur Abschreckung

DIETER MAIER / FELIX SCHNEIDER

"Es ist noch kein Jahr her, da war es eine große Nachricht auf Bundesebene, als in Berlin für Flüchtlinge Container aufgebaut wurden. Man empfand das als schockierend oder zumindest bedenklich. Heute, inmitten einer Asyldebatte, die wahnhaften Charakter angenommen hat, akzeptieren die Medien kritiklos die Zelte hier in Schwalbach, am Rande Frankfurts. So schnell zerfällt politische Kultur in der Bundesrepublik."

Die 19 Zelte, von denen Herbert Leuninger, katholischer Pfarrer und engagierter Helfer der Flüchtlinge aus den Krisengebieten dieser Welt, spricht, stehen im Vordertaunus direkt neben einem Lager der US-Streitkräfte. Der hessische Sozialminister hat sie errichten lassen, als Provisorium, wie er versichert, weil er einfach keinen anderen Platz für die Flüchtlinge mehr habe. Aber die Zelte sind zunächst ein Symbol. Die Botschaft heißt: Die Flüchtlinge bleiben nicht, das Boot ist voll. "Intern" hat Leuninger mitbekommen, wie die Verantwortlichen denken: Wenn das Lager überfüllt ist, telefonieren die Flüchtlinge nach Hause: Es ist kein Platz mehr da, bleibt zu Hause. Ist das Lager nicht überfüllt, telefonieren sie: kommt nur, es gibt noch Platz. "Intern" stellt man sich eine Flucht als Wochenendausflug vor. Leuninger verweist auf den Widerspruch im Abschreckungskonzept:

"Abschreckungsmaßnahmen müssen in der BRD noch immer den Schein eines humanitären Standards wahren und können deshalb nie so schlimm sein, daß sie die Gründe, die Menschen zur Flucht treiben, aufzuwiegen vermögen." Die Abschreckungspolitik ist kein rationales, auf Erfolg zielendes Kalkül sondern ein internes Politikum unseres Landes. Unter dem Druck der Grünen hat Hessen in der Ausländer- und in der Flüchtlingspolitik einige Regelungen liberalisiert. Noch wichtiger als die Regelungen selbst war für Leuninger die sozialpsychologische Wirkung dieser Maßnahmen, die Klimaveränderung, die politische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete. Damit ist jetzt Schluß. Die günstigeren Regelungen gelten zwar weiterhin, aber die Regierung hat mit den Zelten ein Zeichen gesetzt, ein Zeichen für die eigenen, die SPD-Wähler, ein Zeichen gegen den Vorwurf der CDU, sie ziehe mit ihrer Politik Ausländer und Flüchtlinge ins Land. Abgesehen von den lokalen Grünen in Schwalbach hat sich vier Wochen lang keine relevante politische Gruppe zu den Zelten geäußert. "Es geht ja", gibt Leuninger zu bedenken, "bei der Bundestagswahl um kleine Prozente." Intern äußern sie alle Unbehagen, die SPD-Politiker und erst recht die Grünen. Aber bei beiden, bei SPD und Grünen, gilt der Fremdenhaß als aktiviert, die Frage ist nur noch: Wie gehen wir damit um, ohne Schaden zu nehmen ? Die Parteien berufen sich auf die Bevölkerung, die Bevölkerung wird von Politikern stimuliert. Der Teufelskreis schließt sich. Sind die Grünen durch ihre Parteiförmigkeit gelähmt? Leuninger sieht das differenzierter. Als Partei könnten sie sich äußern, als Regierungspartei aber sind sie kompromittiert. Sie sitzen im Kabinett, das den Beschluß gefaßt hat, die Zelte aufzustellen. Ist der Teufelskreis überhaupt zu durchbrechen ? "In dieser Situation ist alles, was man in der Öffentlichkeit tut, eher eine Verstärkung als eine Verminderung des Wahns, auch das Positive, das ist das Verhängnis", sagt Leuninger und setzt sofort hinzu: "Aber es gibt Situationen, wo nicht geschwiegen werden kann, wo auch gegen alle politischen Berechnungen und Öffentlichkeitswirkungen geredet und gehandelt werden muß, um vor sich selbst und den Menschen bestehen zu können, mit denen man zu tun hat." Sprach da der Pfarrer? Leuninger lächelt: "Wenn ich sage: Das lasse ich einfach nicht zu als Bürger von Hessen, dann ist das eine Ebene, von der ich weiß und will, daß sie sich politisch auswirkt." Um sich und den Flüchtlingen Gehör zu verschaffen, begann Leuninger ein Fasten in jenem Zeltdorf, das für ihn so etwas wie das Hüttendorf der Startbahngegner geworden ist. Er kündigte an, zu fasten, bis die Zelte weg seien. Nach fünf Tagen kam ein Staatssekretär (korrekt: Ministerialdirigent) der Hessischen Landesregierung, und dann gab es doch feste Behausungen für die Flüchtlinge. Die Zelte wurden abgebrochen.

Als Referent der bischöflichen Behörde in Limburg hat Leuninger jahrelang Ausländerarbeit gemacht, in kirchlichen und politischen Gremien, Kommissionen, Initiativausschüssen, mit Resolutionen, Presseerklärungen, Interviews und Aktionen hat er versucht, auf die Öffentlichkeit einzuwirken. Dann, "damals, als die Türkenfeindlichkeit kulminierte, erkannte ich: Wir sind als Interventionsinstanzen der progressiven Linken gescheitert, wir haben zu wenig erreicht." Heute will Leuninger "den Kreis der Betroffenen auf der Seite erhöhen, wo prinzipielle Ansprechbarkeit da ist: in der alternativen Szene, im Friedens- und Ökologiebereich." Da er die Erfahrung machte, daß er diesen Bereich mit konventionellem Engagement nicht erreicht, zog er persönliche Konsequenzen: Er ging beim Bischof auf halbe Stelle - finanziell ist er heute durchaus auf die Unterstützung durch Freunde angewiesen - und schloß sich der lokalen Friedensgruppe an: In ihr arbeitet er, ausdrücklich ohne offizielle Funktion, mit Flüchtlingen zusammen. "Raus aus der Massenmedienöffentlichkeit ! Rein in Vermittlungsstrukturen, die auch Öffentlichkeit sind, wo auch Meinung gebildet wird - rein in die Friedensbewegung." Das heißt nicht Verzicht auf Wirkung in den Medien. "Von der Basiserfahrung her kann man zwar, begrenzt, punktuell, durchaus auch Öffentlichkeit im Sinne der Medien herstellen - aber Öffentlichkeit im Sinne von Gegenmacht, das geht über die Medien nicht."

Über die faschistische, antisemitische und fremdenfeindliche Herausforderung einer "Taunusfront" gelang es, in Hofheim 700 Leute für eine Demonstration zu mobilisieren. Über die Flüchtlings- oder Ausländerfrage allein wäre das nicht möglich gewesen, denn trotz prinzipieller Ansprechbarkeit gibt es auch im alternativen Spektrum Abwehrstrategien: Emotionale Abneigung gegen das Fremde paart sich oft mit einer Haltung, die Denken und Handeln auf bestimmte Bereiche fixiert, die Flüchtlingsfrage gilt dann als Sonderbereich für Spezialisten. Man fühlt sich uninformiert. Während die Hochrüstung individuell als Bedrohung empfunden wird, löst die Bedrohung des Anderen nicht dieselbe Betroffenheit aus.

Nach Leuningers Erfahrung kommt es also darauf an, wie man von den Flüchtlingen redet: "Lasse ich mich auf den Diskurs des Sozialministers ein, verenge ich das Problem etwa auf die Raumfrage oder auf die Zahl der Asylsuchenden, dann bin ich verloren. Alle, die sich darauf einlassen, verstummen, selbst die Spitzen der Wohlfahrtsverbände. Um verstanden zu werden - nicht von der Mehrheit, sondern von der Minderheit, auf die es ankommt, die Mehrheit werden kann - muß ich alternativ reden." Das aber heißt, Zusammenhänge herstellen und neue Perspektiven eröffnen, verständlich werden für Leute, die kein Spezialistenwissen haben. Die Flüchtlingsfrage ist als Teil der Friedensfrage, der weltweiten Krisen zu sehen, die Regierungspolitik als Abschreckung. Herauszuarbeiten ist die Funktion der Asyldebatte, AKW- und Rüstungsdiskussion aus der Aktualität zu verdrängen. Vor allem muß man versuchen, Erfahrung und Betroffenheit zu ermöglichen. "Wir sagen den Leuten: Wenn ihr euch dem Wahn entziehen wollt, lest nicht Zeitung, schaut nicht ins Fernsehen, sprecht mit den Flüchtlingen. In dem Augenblick ändert sich eure Perspektive radikal." Stolz verweist Leuninger auf seine ökumenischen Gottesdienste, die einige hundert Leute aus der Umgebung dazu gebracht haben, ihre Schwellenängste zu überwinden und das Lager in Schwalbach zu betreten. Auch seinen Bischof führt er an: "Ein sehr progressiver Mann - aber früher hat der nur Feuilleton produziert." Seit er im Lager war, mit Flüchtlingen gesprochen hat und Stellung bezogen hat, seit er den ganzen Haß seiner Kirchenmitglieder dafür abbekommt - seither radikalisiert er sich zunehmend. Leuninger sucht nach einem "Programm zwangloser Zugangsmöglichkeiten" zum Lager. Er denkt an Feste, gemeinsame Aktivitäten mit Flüchtlingen usw. Er will erfahrbar machen, daß Solidarität keine Pflichtübung sein muß, sondern ein Gewinn, eine Bereicherung sein kann. Der Fremde und der Flüchtling sind für ihn nämlich Repräsentanten einer neuen Welt, die es zu vermitteln gilt, eine produktive Infragestellung der Fremdenfeindlichkeit.